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Freitag, 2. Juni 2023

Schwesterherz [2013]

KAPITEL eins

    „Müssen diese bescheuerten Groschenromane denn immer ein Happy End haben?“

    „Natürlich müssen sie das“, murmele ich, ohne von meiner Arbeit aufzusehen. „Sonst wären es keine Groschenromane.“

    Nina pfeffert ihren Kindle zwischen die Sofakissen. „Und was wären sie dann?“, nölt sie mit dem unverkennbaren Charme einer pubertären Rotzgöre. 

    Ich mache mir nicht Mühe, sie darauf aufmerksam zu machen, dass Päng sich gerade an ihrem hundert Euro teuren Tablet zu schaffen macht, weil das Gerät bei seinem Flug nur knapp den Kopf des Thai verfehlt und ihn unsanft aus seinem Nachmittagsschlaf gerissen hat. Das mag der Kater gar nicht leiden.

    „Weltliteratur“, sage ich. „Oder mein Leben.“ Ich hoffe, nicht wehmütig zu klingen. Aber ich halte meine Sorge für unbegründet. Die Aufmerksamkeitsspanne eines Teenagers ist bekanntlich mit der einer Fruchtfliege vergleichbar. 

 

    Zu meiner Überraschung hebt Nina eine Augenbraue und starrt mich an. „Boah! Bist du depri?“

    Ich lasse ebenfalls eine Augenbraue nach oben schnellen und starre unverwandt zurück. „Boah! Bist du sensibel?“

 

Wir starren beide. 

Und starren. 

Und starren.

 

    „Wieso sensibel?“

    Bevor ich antworten kann, furzt Ninas Smartphone. Mein Mund verzieht sich, in der Gewissheit, dass unser visuelles Kräftemessen zu meinen Gunsten ausfallen wird, zu einem hämischen Grinsen. 

    Doch Nina starrt unbeirrt weiter. Bis zum nächsten Furz. Das linke Augenlid beginnt zu flattern und nur Sekunden später schnellt ihre Hand nach links. Mit einer gekonnten Wischbewegung des Daumens entsperrt sie das Gerät und schielt aufs Display.

    „Unter Sensibilität versteht man übrigens in der Physiologie den sogenannten fünften Sinn“, plappere ich deshalb munter drauf los, „das Fühlen.“ 

    Nina runzelt ihre porzellangleiche Stirn. Mehr Aufmerksamkeit schenkt sie mir jedoch nicht mehr.

    „Anders als bei den vier anderen Sinnen“, referiere ich unbeirrt weiter, „hat die Sensibilität kein ausgezeichnetes Sinnesorgan, sondern bezieht ihre Informationen aus einer Vielzahl von Rezeptor-Typen und freien Nervenendigungen, die über den ganzen Körper verteilt sind.“

    „Was?“

    Ich lächle überlegen. Klugscheißen macht solchen Spaß! „Der Rezeptor ist das erste Glied unserer Sinne. Jeder Rezeptor ist auf einen speziellen Reiz ausgelegt, und zwar nur auf diesen, also einen adäquaten…“

    „Beziehungsstatus: Es ist kompliziert?“, fällt Nina mir entrüstet ins Wort. „Kompliziert? Kom-pli-ziert?“

 

    So viel zur Aufmerksamkeitsspanne.

 

    „Was, bitte, soll das heißen?“, schnaubt sie und bedenkt ihr Smartphone mit einem Blick, der jedem Tiger die Streifen aus dem Fell gezogen hätte. „Beziehungsstatus: kompliziert?“

 

    Ich hatte schon Freunde, bevor es Facebook gab. Auch feste, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da wurde der Beziehungsstatus noch in Klotüren geritzt oder auf Schultische gekritzelt, und nicht im Internet gepostet. Kompliziert war da auch keiner. 

 

    Nina sinkt in sich zusammen und haucht mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden: „Was hat das zu bedeuten?“

    Meine kleine Dramaqueen, denke ich rührig und antworte: „Möglicherweise hat Lukas zwei Wochen Hausarrest bekommen?“

    „Das ist nicht witzig, Nele. Echt nicht! Wir haben uns gestern voll gestritten.“

 

    Ich seufze. Ich kann Paare nicht leiden, die nach jedem kleinen Streit sofort auf Facebook ihren Beziehungsstatus auf Single ändern. Ich meine, ich streite mich auch mit meiner Mutter und ändere nicht auf Waisenkind. Aber gut, bei Nina und Lukas ist es schließlich kom-pli-ziert. 

 

    „Also“, frage ich unter Aufbietung größtmöglichen Verständnisses, sowohl für die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung, als auch für Ninas Stimmungsschwankungen. „Warum habt ihr euch gestritten?“

    „Keine Ahnung. Weiß nicht mehr. Und überhaupt: Ich will nicht drüber reden. Schon gar nicht mit dir!“, höre ich, bevor die Zimmertür hinter ihr zuknallt.

    Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder meiner Arbeit zu. „Na, gut. Dann nicht.“ Auch wenn ich es besser weiß, trifft mich ihre Antwort. 

 

    Nicht mit mir? Ihrer großen Schwester, besten Freundin und Vertrauten?

 

    Bevor ich mir darüber – einmal mehr ohne Sinn und Ergebnis – den Kopf zerbrechen kann, erinnert mich das kollektive Brummen unserer beiden Chihuahuas Hugo und Erwin daran, dass ich noch etwas zu erledigen habe. 

    Ich lege letzte Hand an Ninas neuen Sommerrock aus feinstem rot-rosa Chevron, fische ihren Kindle zwischen den Sofakissen hervor und deponiere beides ordentlich auf dem knallbunten, aus Obstkisten gebauten Regal neben ihrer Zimmertür.

 

 

KAPITEL zwei

 

    „Schwesterherz, du wusstest bereits vor sieben Jahren, was auf dich zukommen wird.“ 

    Okay. Ich habe ich kein Mitleid von Nils zu erwarten.

    „Schließlich gab es vor Nina schon Nala und Nico und Nick.“

    „Und dich“, merke ich mit heraus gestreckter Zunge an. „Du warst der Schlimmste!“

    „Pah!“ Nils dreht theatralisch den Kopf in eine andere Richtung. „Gar nicht!“

    Ich nehme Susanne dankend die Flasche Evian ab und fülle damit den Trinknapf für Hugo und Erwin. 

 

    Ich darf an dieser Stelle anmerken: Evian ist ein Mineralwasser ohne Kohlensäure aus dem in den französischen Alpen gelegenen Ort Évian-les-Bains und somit definitiv teurer als das Leitungswasser, das ich ihnen gebe, wenn Nils gerade nicht hinschaut. 

 

    Nils ist ein bisschen exzentrisch. Besonders. Eigen eben. Und mein Halbbruder. Einer von Dreien, zuzüglich zweier Halb-schwestern. Ich bin die Älteste. Wir alle hatten verschiedene Väter. Richtig gelesen: Hatten. Neben unserer Mutter gibt es nämlich nur eine einzige weitere Gemeinsamkeit: Wir alle sind Halbwaisen. Na ja, fast alle.

 

    Kurze Einführung in die Familiengeschichte gefällig? Bitte schön:

 

    In den sechziger Jahren durchlief unsere Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel, der Einstellung, Lebensgefühl und Wertesystem veränderte. Mode wurde zum politischen Programm, begleitet von Studentenrevolte, Emanzipationsbewegung und sexueller Revolution. Musikalische Aufbruchstimmung, wilde Konzerte, ganz klassisch Sex, Drugs & Rock'n'Roll also.

 

    Wie soll es anders sein? Ich bin ein Kind der freien Liebe. Gezeugt während eines über Tage dauernden Flower Power Festivals, auf dem mehr nackte Haut dargeboten wurde als im Playboy. Eine rebellische, minderjährige Schülerin und ein drogenabhängiger Leadsänger einer seinerzeit recht erfolgreichen Band. Rums, da war ich.

 

    Sein Laster bereitete meinem Vater nicht nur außergewöhnlich viel Lust, sondern auch einen außergewöhnlich frühen Tod. Er starb mit einem Lächeln auf den Lippen an meinem ersten Geburtstag und hinterließ mir den Resthof, den ich heute mit Nils und Nina bewohne.

    Mit drei Jahren gab meine Mutter mich in die Obhut ihrer Mutter und reiste, gerade mal zwanzig, quer durch Frankreich, wo man sie letztlich als Model entdeckte. Drei lange Jahre, während derer ich der Willkür einer Frau ausgesetzt war, die ihre eigene Tochter beneidete wie die böse Königin das Schneewittchen. Ich schwöre euch, als Gott meine Großmutter schuf, lächelte er und sagte zum Teufel: Das ist jetzt dein Problem. Ich bin überzeugt, der Teufel weint immer noch. 

 

    Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland war meine Mutter bereits mit Nils schwanger. Maurice, der Vater und aufstrebender Mode-designer aus – wie sollte es anders sein – Paris war nur wenige Wochen zuvor bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Ein lukratives Jobangebot zog meine Mutter nur ein Jahr nach Nils‘ Geburt nach Monaco. Nun waren wir beide dem großmütterlichen Drachen ausgeliefert, einer bildschönen, aber mit sich selbst und der Welt chronisch unzufriedenen Frau. 

 

    Möchten Sie raten? Gerne. Nach Monaco kam Nala. Ihr Vater erlag einem Infarkt, kaum dass sie drei Jahre alt war. Nicos Erzeuger, ein Staatsanwalt aus Rom, wurde während eines Prozesses im Gerichtssaal erschossen. Meine Mutter war hochschwanger und kehrte erneut nach Deutschland zurück. Zu mir. Zu Nils. Zu Nala. Und ihrer tyrannischen Mutter. Die verkuppelte sie mit einem wohlhabenden Arzt aus Basel, der unsere Mutter nach Nicos Geburt nicht nur erneut schwängerte, sondern fast unmittelbar nach der Niederkunft optisch in ihren Ursprungszustand zurückversetzte, während wir wieder einmal in der Obhut der Hölle waren. Meine Mutter hat der Karriere wegen mit ihrem Körper Dinge anstellen lassen – dafür wäre jeder Gebrauchtwagenhändler in den Knast gegangen. Und wahrscheinlich ist sogar etwas dran an dieser Vermutung, denn nur fünf Monate nach Nicks Geburt erhängte sich der Chirurg in seiner Baseler Privatklinik und unsere Mutter kehrte zum wiederholten Mal zu uns zurück. 

 

    Wieder ein bisschen reicher. An Geld. An Erfahrung. Um einen verstorbenen Ehemann und ein weiteres Kind eines weiteren Mannes. Vielleicht hat sie zu diesem Zeitpunkt dann aber endlich auch mal etwas von Geburtenkontrolle gehört. Weitere Geschwister kommen seither nämlich nicht mehr nach. Nur noch Männer.

 

    Von Ninas Erzeuger fehlt bis heute jede Spur. Von unserer gemeinsamen Mutter die meiste Zeit auch. Mit einundsechzig macht sie noch immer eine verdammt gute Figur, und sollte in einem von uns überraschend das Bedürfnis nach ihrer Nähe aufwallen, blättern wir diverse Modezeitschriften der gehobenen Klasse durch, was aber eher selten bis gar nicht der Fall ist. Ab und an erreicht uns eine Postkarte von irgendwo auf der Welt, oder ein Anruf, ansonsten erinnern nur die Unterhaltszahlungen für Nina an ihre Existenz. 

 

    Habe ich sie erschreckt? Wenn ja, tut es mir leid. Denn keine Sorge: So dramatisch wie es sich vielleicht anhören mag, ist es nicht. Jeder von uns hat seine Besonderheiten, seine Macken, vielleicht auch den einen oder anderen Knacks, einige davon durchaus ausbaufähig, jedoch nicht notweniger Weise therapiebedürftig. Schließlich: Was ist schon normal? 

 

    „Su-Darling? Machst du uns bitte zwei Ügo?“

 

    Ich verdrehe die Augen. Ügo ist Hugo, ein Cocktail aus Prosecco, Holunderblüten-Sirup, frischer Minze, Limette und Sodawasser. Nils spricht es französisch aus, weil er überzeugt ist, es könnte Hugo, unseren Chihuahua, nachhaltig traumatisieren, höre er seinen Namen ständig in falschem Zusammenhang. Ich bin überzeugt, dem Hund ist das scheißegal. 

 

    Su-Darling heißt eigentlich Susanne, ist die gute Seele des Sechsundsiebzig und das geduldigste Geschöpf der Galaxie. Anders kann ich mir nicht erklären, wie sie seit beinahe zwanzig Jahren gemeinsam mit meinem exzentrischen Halbbruder den Laden am Laufen hält und sich noch bester geistiger Gesundheit erfreut. 

 

    Ursprünglich war das Sechsundsiebzig ein Kaufhaus – mit großer Glasfront, einem Lager, Aufenthaltsraum und Büro. Nils schloss eine Marktlücke, indem er den alten Laden renoviert und so umgebaut hat, dass sich nun in vorderster Front ein Café mit Bar befindet, während der Lagerraum zum Frisörsalon und der Aufenthaltsraum zu einem Kosmetikstudio umgewandelt wurde. All das hatte in unserer ländlichen Gegend bis dato gefehlt und schlug ein wie eine Bombe. Ein ganz ähnliches Konzept hat man sich deshalb wohl auch für eine Vorabendsoap aus Köln abgeguckt. 

 

    „Und was willst du jetzt tun, Schwesterherz?“

    Ich zucke mit den Schultern. „Was ich immer tue. Sie in Ruhe lassen und warten, bis unsere Fledermaus wieder handzahm ist.“

    „Fledermaus?“ Susanne runzelt amüsiert-irritiert die Stirn.

    „Fledermaus“, nicke ich grinsend. „So nennen wir sie, wenn sie nicht hinhört. Und das tut sie ohnehin selten. Sind wir mal ehrlich, Susanne. Teenager und Fledermäuse haben doch viel gemeinsam: Sie antworten ungern, wenn man sie anspricht, hausen in unaufgeräumten, hygienisch fragwürdigen Räumen, ernähren sich von Sachen, die uns ekelhaft vorkommen, tauchen oft im Pulk auf und hängen die meiste Zeit nur rum. Stimmt’s oder stimmt’s?“

    Sie lacht und zeigt mit dem Daumen nach oben. „Stimmt.“

 

    Nils trübt unsere Stimmung, indem er anmerkt: „Du gibst also wieder klein bei? Ja? Lässt dir weiterhin von der kleinen Rotzgöre auf der Nase herumtanzen?“

    „Hallo?“, echauffiere ich mich. „Sie ist unsere Schwester!“

    „Das ändert nichts daran, dass sie ein ganz ausgebufftes Luder ist.“ Beschwichtigend nimmt Nils mich in den Arm, küsst meine Stirn und fährt sanft mit dem Daumen über meine Wange. „Mein Hase, ich liebe Nina nicht weniger als du. Aber ich habe Recht. Und du weißt das.“

    „Hör mal, Nele“, schaltet sich nun auch Susanne ein. „Du solltest Nina wirklich nicht alles durchgehen lassen. Auch sie hat sich an Regeln zu halten. Du tust ihr einen Gefallen, wenn du Grenzen ziehst. Aber nicht, wenn du dich von deinem schlechten Gewissen unter Druck setzen lässt. Du bist nicht ihre Mutter.“

    „Das weiß ich doch“, schnaufe ich angepisst. „Das müsst ihr mir nicht dauernd sagen.“

    Susanne und Nils werfen sich unmissverständliche Blicke zu. 

    Nils zieht seine rechte Augenbraue nach oben – das liegt in der Familie – und näselt: „Wir wissen, dass du das weißt, mein Hase. Du vergisst es nur manchmal.“

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