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Freitag, 2. Juni 2023

Pummelfee [2014]

KAPITEL eins

    Et kütt wie et kütt, sagt der Kölner. Er hat vermutlich Recht. Denn anders würde sich die groteske Abfolge persönlicher Schicksalsschläge und Niederlagen der vergangenen Woche weder erklären noch ertragen lassen.

 

    Mein Name ist Fee. Fee Jupiter. Ich gebe Ihnen genau dreißig Sekunden, um verhalten zu grinsen, laut schallend zu lachen oder mitleidig zu seufzen. Letzteres könnte ich forcieren, indem ich weitere Details zu meiner Person preisgebe, wie beispielsweise die wolfsweißen Korkenzieherlocken, das kleine zweite Kinn und eine Konfektionsgröße, die irgendwo jenseits der Sechsundvierzig angesiedelt ist. Die dazu passende üppige Oberweite habe ich leider nicht. Hatte ich noch nie. Den unbändigen Lockenkopf sowie eine leicht adipöse Veranlagung hingegen schon, wobei mein Hintern überraschenderweise keinen Anlass zur Klage und es sogar den Ansatz einer Taille gibt. Noch.

 

    Für meinen Namen – wie Sie sich sicher denken können – kann ich auch nichts. Hier liegt die Schuld gänzlich bei meiner bekloppten Mutter. Der weibliche Vorname Fee ist eine Variante von Fe, welche wiederum eine Kurzform von Namen wie Felizitas, Feodora oder Felia ist. Es hätte also auch schlimmer kommen können, nicht wahr? 

 

    „Du bist einzigartig, kleine Fee.“ Die Stimme meines Vaters klingt nach zehn Jahren noch immer klar in meinen Ohren. Obgleich ich es besser weiß (jeder stolzer Vater hält sein Kind schließlich für etwas ganz Besonderes – und falls es nicht so ist, läuft da definitiv was schief), möchte ich ihm gerne glauben, wenn ich in den Spiegel schaue. Da gibt es ein winziges Merkmal, das mich beinahe unverwechselbar macht. 

    Ich kam mit einer Irisheterochromie zur Welt. So bezeichnet man die Verschiedenheit beider Regenbogenhäute durch eine Störung der Pigmentierung. Betroffene haben folglich zwei verschiedene Augenfarben, erklärt uns in diesem Fall Wikipedia und informiert weiter: Die Form der Heterochromie, die keinerlei Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes und der Sehschärfe zur Folge hat, tritt in etwa vier Fällen unter einer Million Personen auf. Einer Million! Außerdem kommt Heterochromie beim Menschen relativ selten vor. 

    Meine rechte Iris ist taubenblau, die linke olivgrün. Es ist sehr amüsant, wie verwirrt ein Gegenüber zuweilen reagiert, wenn er mir in die Augen schaut.

 

    Dennoch verdanke ich Fee in Kombination mit meinem Erscheinungsbild den Spitznamen Pummelfee. Und das seit frühester Kindheit. Ein Wunder, dass ich keinen bleibenden psychischen Schaden davongetragen habe. Zumindest nicht offensichtlich. Kinder können grausam sein ist also nicht nur so daher gesagt. Außerdem sind sie sensibel. Es wird Tote geben war ein Tippfehler, der dafür sorgte, dass niemand zu meinem zwölften Geburtstag kam. An dieser Stelle weise ich auf meine Vorliebe zur Ironie hin und danke demnach meiner durchgeknallten Mutter, die nicht nur zu dusselig für eine einfache Einladungskarte war, sondern mich sowohl mit diesem Namen, als auch einem Übermaß an Aufmerksamkeit in Form von Kalorien- und Fettbomben bedacht hat. Ich wäre inzwischen sicher geplatzt, hätte sie nicht frühzeitig ihrem Leben und demzufolge auch dieser Mast ein Ende gesetzt. 

 

    Das mag sich nun tragisch anhören, viel verstörender ist jedoch das Geständnis in Form eines Briefes, den ich beinahe auf den Tag genau dreißig Jahre nach ihrem Tod ausgerechnet in einem Kochbuch finde.

 

    Kommen Sie doch einfach mal auf einen Sprung mit mir in die vergangene Woche:

 

    „Sieht man mal von der gefüllten Salatgurke ab…“

    „Gefüllte Salatgurke?“, unterbricht Mikkel unser Gespräch, das ich vermutlich sowieso nur mit mir selbst führe, ohne von der Fachzeitschrift aufzuschauen. „Hört sich doch nun gar nicht so verrückt an?“

    Ich seufze. „Schätzelein? Die Füllung besteht aus Nougatcreme, Erbsen und Sesam. Noch Fragen?“

    Mikkel hebt den Kopf. „Ähm... nein.“

 

    Ich habe bereits erwähnt, dass meine Mutter sehr speziell war. In Charakter, Wahrnehmung, Lebenseinstellung. Und Geschmack eben auch.

 

    „Aber hier ist etwas, das könnte durchaus... huch?“ Beim Durchblättern der weit über hundert handbeschriebenen Seiten rutscht ein Papier aus dem großen, alten Rezeptbuch, das dort nicht hineingehört. „Was ist denn das?“

    „Hm?“

    Ich lege das Buch zur Seite und streiche vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Tinte des Blatts. „Der ist von meiner Mutter.“

    „Hmhm.“ Ich bezweifle, dass Mikkel mir überhaupt zuhört.

    „Ein Brief.“

    „Hmhmm.“

    Ich taste im Regal nach meiner Lesebrille. „Der ist“, kneife ich die Augen zusammen, „der ist von ihrem Todestag.“

    „Hmhmmm“, brummt Mikkel abwesend.

 

    Seufzend stehe ich auf und gehe in den kleinen Wintergarten. An Kölns Himmel hängen dicke Schneewolken mit der Verheißung auf weiße Weihnachten. Leere Versprechen, wie so viel in meinem Leben, hämmert es in meinem Kopf und verstummt augenblicklich, als Mikkel mir folgt.

    „Darling?“ Sanft streicht er mir über die Wange. „Was ist los?“

    „Dieser Brief ist von Eve, meiner Mutter.“ Mit zittrigen Fingern reiche ich ihm das Stück Papier und lache humorlos auf. „Sie hat mal wieder vergessen, ihn mir zu geben. Sie hat ständig irgendetwas vergessen. Das Geld für die Klassenfahrt zu überweisen, mich vom Turnen abzuholen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen, meinen Geburtstag…“

    Mikkel legt seinen Arm um meine Schultern. Mit zusammengezogenen Augenbrauen liest er vor: „Liebste Tochter, kleine Fee…“

 

    Liebste Tochter, kleine Fee,

    sicher wunderst du dich, dass ich dir schreibe, schließlich bin ich ja schon tot.

 

    „Oh. Mein. Gott.“ Stöhnend lasse ich mich in den Korbsessel fallen. Der Brief ist dreißig Jahre alt. Ich war zu diesem Zeitpunkt fast fünfzehn. Trotzdem sprach, respektive schrieb meine Mutter mir wie einem Kleinkind. 

    Mikkel räuspert sich und fragt stumm, ob er weiterlesen soll. 

    Ich nicke.

 

    Du warst mein größtes Geschenk. Das Geschenk deines Vaters, der uns vor so vielen Jahren verlassen hat.

 

    Ich weiß ja, dass meine Mutter einen an der Klatsche hatte. Aber so schlimm? Unwillkürlich schüttele ich den Kopf und lausche weiter Mikkels Stimme.

 

    Vielleicht sollte ich dir das erklären.

 

    „Könnte hilfreich sein“, knurre ich. Doch Mikkels Gesichtsausdruck verfinstert sich und ich sinke tiefer in den Sessel.

 

    Vielleicht sollte ich es aber auch lassen.

 

    Ich stöhne und habe im Grunde jetzt schon genug von ihrem gestörten Monolog aus der Vergangenheit. Dennoch reiße ich mich zusammen.

 

    Es würde ohnehin nur wie eine billige Ausrede klingen. Du bist jetzt fast fünfzehn und hast bereits deinen eigenen Kopf. Einen sehr hübschen noch dazu. Das muss ich dir sagen. Denn du ähnelst von Tag zu Tag mehr deinem Vater. Seiner weichen, sanften Seite. 

 

    Fee, mein Kind, der Name deines leiblichen Vaters ist Ever Faithful. Er war Leadsänger einer Rockband und hat mich verlassen, bevor ich ihm sagen konnte, dass du unterwegs bist. Er hat mich verlassen, weil eine andere Frau von ihm schwanger war. Auch er ist schon tot und ich bin nun bei ihm. Aber du hast noch irgendwo einen Halbbruder oder eine Halbschwester, der oder die auch Halbwaise ist. Obwohl du, genau genommen, inzwischen ja Vollwaise bist. 

 

    Wie dem auch sei: Claus wird sich um dich kümmern, so wie er es all die Jahre getan hat, obwohl er wusste, dass du nicht seine leibliche Tochter bist.

    Ich liebe dich, mein Kind, und werde dich immer lieben. Auch wenn ich jetzt tot bin. 

    Frage nicht nach dem Grund. Mir war einfach danach.

    Wir sehen uns irgendwann im Himmel wieder, Mama

 

    Mein Kopf ist wie leergefegt.

    „Mir war einfach danach?“ Mikkel überfliegt die Zeile mehrmals und schüttelt fassungslos den Kopf. „Deine Mutter hat sich nicht wirklich aus einer Laune heraus“, er betont die letzten Worte, „das Leben genommen? Das kann ich nicht glauben.“

    „Doch“, widerspreche ich. „Kannst du. Das passt zu ihr. Eve hat mal aus einer Laune heraus Heiligabend gefeiert. Mit Baum und Geschenken und Festbeleuchtung. Im April. Brauchst du noch mehr Beispiele?“

    „Danke, nein.“

    „Et jitt Saache, do jläuvs et nit“, sage ich und meine damit, dass es Dinge gibt, die man nicht glauben kann. Oder möchte. So wie ich gerade. Mein Vater ein Rocksänger, der zwei Frauen gleichzeitig geschwängert hat? Und Claus wusste es die ganze Zeit? 

 

    Bitter enttäuscht von dem Mann, den ich fast fünfundvierzig Jahre für meinen Vater hielt, und völlig überfordert mit der Information über meine wahre Herkunft, sinke ich in mich zusammen.

    „Was wirst du jetzt tun?“, fragt Mikkel nach einer langen Weile. 

    Den Kopf in den Händen vergraben, schiele ich mit meinem grünen Auge durch Zeige- und Ringfinger. „Was soll ich schon tun? Alle, die etwas damit zu tun haben, sind tot. Soll ich auf ihr Grab pinkeln?“

    „Nun werde nicht gleich wieder so vulgär.“

    Ich rolle hinter vorgehaltenen Händen mit den Augen.

    „Du brauchst auch nicht mit den Augen zu rollen“, tadelt Mikkel.

    „Tu ich doch gar nicht.“

    „Tust du wohl! Also? Was ist mit dem Rest deiner Familie?“, lässt er nicht locker. „Wirst du es wenigstens deinem Sohn sagen?“

    Sofort straffen sich meine Schultern und die rechte Augenbraue schnellt nach oben. Ein Reflex meines Körpers, mit dem mein Geist im Grunde nichts zu tun hat. „Es ist auch dein Sohn, Mikkel. Und ich weiß nicht, was er damit zu tun hat“, erhebe ich die Stimme. „Alexander hat seinen Opa... hat Claus fünf Mal gesehen. Das ist bereits fünf Mal mehr als er jemandem aus deiner Familie begegnet ist.“

    „Fee, das ist jetzt nicht Thema“, grollt Mikkel. „Darüber können wir gerne ein anderes Mal sprechen.“

 

    Manche Gespräche sind so zielführend wie zwei Tage Kreisverkehr. Wie jene, in denen es um Mikkel und Alexander geht. Um Lærke und um mich. Gespräche, die ihren Anfang bereits vor fünfundzwanzig Jahren genommen haben und bei denen wir noch immer auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen sind.

 

    Entschuldigen Sie bitte. Ein paar Fußnoten wären an dieser Stelle sicher angebracht, damit Sie mir folgen können. Also mal aufgepasst:

 

    Nach meiner Ausbildung zur Fotografin fand ich Ende der achtziger Jahre prompt eine gut bezahlte Anstellung in einem Fotostudio, das sich in Kölns Villensiedlung Marienburg schnell etabliert hatte, und zog um. Inhaber des Studios war der enorm ehrgeizige und zudem verdammt gutaussehende Däne Mikkel Hansen. Seine Frau Lærke erwartete bereits ihr zweites Kind und fiel demnach erneut als Mitarbeiterin aus. So kam meine Bewerbung genau zur rechten Zeit, wenn auch nicht von ungefähr. Achtung! Es folgt ein Schachtelsatz: Mikkel erkannte mein naturgegebenes Talent und finanzierte mir Ende der Neunziger sogar eine dreijährige Ausbildung zum Photoartist an der Photoacademy in Berlin, während derer mir innerhalb der Unterrichtsfächer das theoretische und praktische Wissen sowie neben dem handwerklichen Fotografieren in verschiedenen Bereichen auch wirtschaftliches Denken und kreatives Gestalten am Computer vermittelt wurde. Fertig! Mikkel, zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens bereits Ende dreißig, setzte gezielt seinen Charme ein und hatte mich, damals gerade neunzehn geworden, spielend um den Finger gewickelt. So wurde ich die Mätresse meines Arbeitgebers und nur wenige Wochen später von selbigem schwanger. Noch zwei Tage vor der Entbindung und bereits drei Monate danach stand ich im Studio. Unseren Sohn Alexander stets an der Seite. 

    Mikkel fand inzwischen einen Alibivater, um unser Verhältnis nicht auffliegen zu lassen. Beenden wollte er es keinesfalls. Seine Ehe allerdings auch nicht. Der Chauffeur der Familie, Per Ander, galt offiziell als Alexanders Erzeuger, wurde als solcher eingetragen und mager abgefunden. Viel hatte er sowieso nicht davon, da er den gesamten Betrag in einen Porsche 928 investierte, mit dem er nur wenige Tage später verunglückte.

 

    Lange Rede, kurzer Sinn. Ich führe seit fünfundzwanzig Jahren eine Beziehung mit meinem Chef, von der niemand etwas weiß. Außer uns und unserem gemeinsamen Sohn, der gerade zweihundertdreißig Kilometer entfernt als Barchef arbeitet. 

 

    Eine ganze Weile schweigen Mikkel und ich. Dann räuspert er sich, was ich mit einem verkniffenen Blick kommentiere. 

    „Darling“, haucht er und tastet nach meiner Hand. „Wann gibt es Essen?“

 

    Zwanzig Minuten später stelle ich seinen Teller scheppernd auf dem Wohnzimmertisch ab. Mir selbst ist der Appetit vergangen. Auch nicht das Schlechteste, wenn man ohnehin schon zu viel auf den Rippen hat.

    „Darling“, räuspert sich Mikkel erneut und ich bin versucht, ihm ein Hustenbonbon in den Rachen zu schießen. Mit einer Zwille. Aus fünf Zentimetern Entfernung. „Darling, was ist das?“

    „Das?“ Völlig unbeteiligt werfe ich einen kurzen Blick auf den Teller. „Das ist Brät vom Schwein mit Stäbchen von der Kartoffel an Tomaten-Curry-Jus.“

    „Bitte, was?“ Mikkel rümpft die Nase und sieht mich scharf an. „Das ist nicht dein Ernst, Fee.“

    Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Nein. Das ist deine Currywurst mit Pommes. Mikkel.“

    Widerwillig nimmt er Messer und Gabel zur Hand. „Und du? Isst du nichts?“

    „Nein.“

    „Und warum nicht?“

    Was für eine blöde Frage. Selbst ein Emotionslegastheniker würde wissen, dass mir die Offenbarung meiner Mutter gerade schwer im Magen liegt. 

    Ich werde wütend. Das ist so ein Prozess, den kann ich einfach nicht steuern. Bis ich bemerke, dass ich wütend bin, platzt mir bereits der Kragen. Außenstehende stellen den aufkeimenden Zorn früher fest – an den roten Flecken auf meiner Stirn. 

    Und genau die fallen Mikkel just in diesem Moment auch auf. „Du bist sauer, Darling. Das sehe ich dir an.“

    „Ich? Sauer?“ Ich schüttele trotzig den Kopf „Überhaupt nicht. Ich habe so gute Laune, ich könnte glatt Pflastersteine werfen.“

    Er seufzt, schiebt den Teller von sich und steht auf. „Ich denke, Darling, ich werde jetzt besser gehen.“

    „Denke ich auch“, stimme ich tonlos zu.

 

 

KAPITEL zwei

 

    Wenn et nit ränt, dann dröpp et, sagt der Kölner und hat wohl auch damit Recht. Selbst wenn ich persönlich diese Lebenseinstellung für übertrieben pessimistisch halte. Nicht immer läuft im Hintergrund bereits etwas schief, während wir uns an der Front noch in niemals enden wollender Glückseligkeit wähnen. Aber manchmal...

 

    Nachdem ich gestern Abend meinen Frust mit einer Flasche Rotwein hinuntergespült und heute Morgen mit zusammengekniffenen Augen einen Blick in den Spiegel geworfen habe, beschließe ich, den Samstag im Bett zu verbringen. Zumindest überwiegend und nicht ganz allein. 

    Auf dem Weg vom Bad zurück ins Schlafzimmer klemme ich mir mein MacBook unter den Arm und versorge mich gleich mit einer Regentonne Milchkaffee. Die Unordnung des gestrigen Tages ignoriere ich. Stört schließlich niemanden. Mikkel wird frühestens in zwei Tagen wieder hier auflaufen. Oder drei. Oder vier. Oder fünf. Und ich werde da sein. Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich in einer Warteschleife.

 

    Das Gehirn ist eines der bedeutendsten Organe. Es arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Vom Beginn deines Lebens bis zum Augenblick, in dem du dich verliebst. Wollte ich nur mal gesagt haben.

 

    Ich habe mir mein Leben so nicht gewünscht, niemals vorstellen können. Im Grunde verachte ich es sogar. To be classified top secret. Mein Privatleben unterliegt seit beinahe einem Vierteljahrhundert höchster Geheimhaltungsstufe. Als ob Mikkel Präsident der Vereinigten Staaten wäre, oder so. Dabei ist er nichts weiter als ein Migrant, der es dank seines Talents und nicht minder seines Charmes zu einem gewissen Status in der Gesellschaft, hohem Ansehen und einem stattlichen Vermögen gebracht hat. In der Öffentlichkeit tritt er als treusorgender Ehemann und liebender Vater von sage und schreibe sieben Kindern auf und präsentiert sich und seine Familie mit Stolz. 

    Alexander und ich hingegen werden gehütet wie sein verborgener Schatz. Hinter den Mauern eines Zuhauses, das wie ein Turm anmutet. Der Fassade eines hochgeschätzten Dienstverhältnisses. Erst mit sechzehn klärten wir Alexander darüber auf, dass Mikkel – zu dem er bis dahin und heute eine ungefähr so enge Bindung hat wie ich zur Wurstverkäuferin des Supermarkts von nebenan – sein leiblicher Vater ist. Zu diesem Geständnis ließ Mikkel sich nur hinreißen, weil wir ohnehin nach außen völlig abgeschottet sind. Ich habe weder eine beste Freundin noch war ich jemals im Elternbeirat. Für Köln und den Rest der Welt existiere ich nur am Rande. Mein ganzes Leben besteht aus meinem Sohn, meiner Arbeit und dem Warten auf Mikkel. 

 

    Liebe macht blind. Und vermutlich auch blöd. Ich habe nie hinterfragt, warum ich dieses Leben führe. Weder Mikkel noch mich selbst. Ich bin den Weg des geringsten Widerstandes und der höchstmöglichen Bequemlichkeit gegangen, habe akzeptiert, resigniert und mir selbst eingestanden, meiner Mutter nicht ganz unähnlich zu sein: Auch wenn ich es mir bis heute nicht vorstellen kann, habe ich noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwann offiziell die Frau an Mikkels Seite zu sein. Das nenne ich echt bekloppt.

 

    Als Alexander noch klein war, keimte manchmal das schlechte Gewissen in mir auf. Doch mein Sohn wischte es jedes Mal mit einem Lächeln und den Worten: „Mama, wir haben doch uns!“ beiseite. Selbst, als er mit sechzehn die Wahrheit erfuhr, nahm er es ganz gelassen hin. Er hatte mich und mehr brauchte er nicht.

 

    Inzwischen ist aus meinem kleinen Sonnenschein ein wirklich possierliches Exemplar der Spezies Mann geworden. Das sage ich als Mutter natürlich nicht ohne Stolz. Hochgewachsen und von der Statur eines Personaltrainers. Er teilt meine Leidenschaft für Tattoos, und mit seinem kahl geschorenen Kopf, dem Dreitagebart und dem spitzbübischen Lächeln ist er eine gelungene Mischung aus Vin Diesel und Dwayne 'The Rock' Johnson. Alex’ Augen sind wie die seines Vaters in warmem, tiefem Schokoladenbraun und haben zu meinem Leidwesen bereits einige Frauenherzen zum Schmelzen gebracht. Ich fürchte, inzwischen sind es bereits weit mehr geworden. 

    Seit einem halben Jahr arbeitet Alexander im zweihundertdreißig Kilometer entferntenSechsundsiebzig als Barchef und fühlt sich dort pudelwohl. Ursprünglich war das Sechsundsiebzig ein Kaufhaus – mit großer Glasfront, einem Lager, Aufenthaltsraum und Büro. Alexanders Chef schloss eine Marktlücke, indem er den alten Laden renoviert und so umgebaut hat, dass sich in vorderster Front ein Café mit Bar befindet, während der Lagerraum zum Frisörsalon und der Aufenthaltsraum zu einem Kosmetikstudio umgewandelt wurde. All das hatte in dieser ländlichen Gegend bis dato gefehlt und schlug ein wie eine Bombe. Der Laden läuft gut und Alexander verdient nicht schlecht, zumal er zusätzlich in einem Fitnessstudio arbeitet und ab und an als Türsteher aushilft. Er möchte sich orientieren und ausprobieren. Mit vierundzwanzig und einer geduldigen Mutter darf man das.

 

    Aber wo war ich stehen geblieben? Ah! In der Küche bei meiner extragroßen Portion Kaffee, mit der ich nun zurück ins Schlafzimmer schlendere. Im Schneidersitz mache ich es mir auf meinem Bett bequem und schalte das MacBook ein. 

 

    Denken ist wie Googeln. Nur krasser. Ich habe mich gestern Abend nicht nur in Selbstmitleid gesuhlt und am Rotwein gelabt, sondern neben dem kompletten Rezeptbuch auch den Brief meiner Mutter im Ofen verbrannt. Jetzt versuche ich verzweifelt, mich an den Namen meines Erzeugers zu erinnern.

 

    Die Rädchen in meinem Kopf ächzen, bevor sie sich in Bewegung setzen und nach einer gefühlten Ewigkeit einrasten. Gestern Abend noch habe ich die Beichte meiner Mutter als Ergebnis ihrer üblichen Hirngespinste und Fantasien abgetan. Heute jedoch tun sich leichte Zweifel auf. Warum auch immer. Bevor ich also endgültig einen Schlusspunkt hinter diese Angelegenheit setze, möchte ich die Herren Page und Brin befragen. Ich tippe Ever Faithful ins Googlesuchfeld und halte die Luft an. Doch alles was ich finde, ist der Titel eines Buches über Kuba im neunzehnten Jahrhundert sowie Amirelli Ever-Faithful, Bundesjugendsieger und Australien Terrier. Beide Ergebnisse führen definitiv nicht zu meinem Vater. Und sie führen weder dazu, mich von seiner einstigen Existenz zu überzeugen noch mit der ganzen Sache abzuschließen. 

 

    Bevor ich mir weiterhin meinen heute ohnehin angeschlagenen Kopf zerbrechen kann, geht ein Anruf über Skype ein.

    „Jode Morje, ming Hätzleevje“, krächze ich. 

    „Mum?“ Alexander sitzt mit freiem Oberkörper vor seinem Laptop. „Bist du krank?“

    Ich schüttele den Kopf. „Nur zu spät ins Bett gegangen.“

    „Seit wann bist du heiser?“

    „Keine Ahnung. Habe mich heute noch nicht mit mir unterhalten.“

    Alex seufzt. „Mum, ich müsste mal... hmpf!“ Er wird von einer relativ sparsam bekleideten Dame Anfang Vierzig unterbrochen, die durchs Bild hüpft und ihn stürmisch küsst.

    Ich seufze auch.

    Alex fuchtelt mit den Armen, als würde er einen Schwarm Fliegen verscheuchen wollen, dann schnaubt er: „Frühstück war nicht inklusive.“

    Im Hintergrund höre ich es zetern und scheppern. Dann knallt eine Tür.

    Ich räuspere mich. „Das war nicht fein, ming Jung.“

    „Mum, wir hatten Sex vereinbart. Von Übernachten war nicht die Rede.“ Er klingt tatsächlich entrüstet. „Ich bin ihr also schon entgegengekommen. Und jetzt erwartet sie auch noch Frühstück? Dreist, oder?“

    „Selbstverständlich, Sohn. So geht das natürlich nicht.“ Meine Stimme trieft vor Ironie. Oder dem, was davon noch übrig ist. „Wo kämen wir denn hin, wenn jede Frau nach dem Sex noch kuscheln oder gar zum Frühstück bleiben würde?“

    „Du sagst es“, zwinkert er schelmisch und wird dann ernst. „Mum, ich will mit dir reden. Ich habe eine nette kleine Eigentumswohnung gefunden. Hier.“

    „Ah!“ Mir war ja klar, dass Alex irgendwann einmal ausziehen würde. So eng und innig unsere Bindung auch ist. Mein Sohn ist vierundzwanzig. Was soll ich sagen? „Das ist toll. Ich freue mich für dich.“ 

 

    Oje, am liebsten würde ich mich an seine Beine klammern und heulen: Lass mich nicht allein, ming Jung! Aber weder tue ich das noch gebe ich es zu.

 

    „Du freust dich?“ Alex runzelt die Stirn und fixiert mich durch die Webcam. „Mum? Du würdest dich doch jetzt am liebsten an meine Beine klammern und heulen: Lass mich nicht allein, ming Jung! Gib es zu.“

    Ich schüttele den Kopf und schlucke den Klos in meinem Hals hinunter, der immer dicker wird. „Also bitte! Wo denkst du hin?“

„Mum?“

„Hm?“

„Isch han disch jän.“

    „Ich liebe dich auch, Alexander“, schluchze ich und breche dann in Tränen aus.

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