KAPITEL eins
„Mama.“ Luca hatte die Stirn angestrengt in Falten gelegt und kam energisch auf mich zu. „Jetzt hör mal genau hin.“ Belehrend hielt mein sechsjähriger Sohn seinen kleinen Zeigefinger in die Höhe und holte tief Luft. „Mama“, wiederholte er und nahm mich mit seinen tiefblauen Augen ins Visier, um sich meiner uneingeschränkten Aufmerksamkeit sicher zu sein. „Der Mond ist ein Himmelskörper, der die Erde als Trabant umkreist.“
„Ah!“, nickte ich und verkniff mir ein Grinsen. „Ist der also auch mit dem Auto unterwegs?“
„Ach, Mama“, stöhnte Luca. Er tat, als hole er mit dem Buch zum Schlag aus. „Das ist doch ein Satelli-hit!“ Er kniff die Augen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ein Satellit. Verstehst du?“
Ich grinste bemüht unauffällig.
Luca warf mir diesen Stell-dich-nicht-so-blöd-an-Blick zu und fuhr unbeirrt fort: „Seine mittlere Entfernung von der Erde ist dreihundertvierundachtzigtausend... vierhundertund...“ Er legte die Hand in den Nacken und dachte angestrengt nach. „...vierhundertundfünf Kilometer. Der Mond hat einen Durchmesser von... Moment mal... von dreitausendvierhundertundachtzig Kilometern. Stell dir das doch mal vor, Mama! Und er rotiert in siebenundzwanzig Komma drei zwei Tagen um seine Achse“, kam es schließlich fließend aus seinem Mund. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand zeichnete er weit ausholend imaginäre Kreise in die Luft.
Ich griff schützend nach meiner Kaffeetasse, die sich bedrohlich nahe in der Umlaufbahn des Mondes befand.
„In derselben Zeit bewegt er sich um die Erde. Daher kehrt er der Erde stets die gleiche Seite zu...“
„Kleiner Klugscheißer“, murmelte ich – keinesfalls ohne von Stolz erfülltem Herz – und nahm am Küchentisch Platz.
Luca hatte das Buch aufgeschlagen und schlenderte damit in den Nebenraum. Seinen Blick konzentriert auf das geschriebene Wort gerichtet, ließ er sich langsam auf das Sofa sinken. „Der Mond hat keine Atmosphäre“, dozierte er unverwandt weiter. „Die Oberfläche ist mit einer nur wenige Zentimeter dicken Staubschicht überlagert und besteht aus meist dunklem, ziemlich festem Gestein.“
Ich sah ihm nach und seufzte. „Das Kind macht mich noch wahnsinnig.“
Ganz ernst durfte man diese Aussage nicht nehmen.
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und klemmte meine Finger in den Henkel der Tasse. Gespielt mitleidheischend blickte ich auf.
Alf schenkte mir ein warmes Lächeln. „Schätzchen“, summte er und tätschelte meine Hand. „Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, einen so klugen Jungen zu haben.“
„Alfi. Luca ist sechs Jahre. Hörst du? Sechs!“
Er tat es mit einem Achselzucken ab. „Sechseinhalb“, korrigierte er. „Und er kommt in zwei Wochen in die Schule“.
Ich schob meinen Kaffee zur Seite und beugte mich über den Küchentisch. Beschwörend sah ich meinen besten Freund an. „Er kommt“, betonte ich, „erst in die Schule. Deswegen braucht er ja auch jetzt noch nicht lesen können. Dort lernt man so was nämlich.“ Ich blickte mich nach Luca um und fixierte die Fachliteratur auf seinem Schoß. „Und schon gar nicht solche... solche...“. Hilflos wedelte ich mit den Händen in der Luft. „Warum liest er denn nicht einfach noch Benjamin Blümchen?“
„Schätzchen.“ Alf ergriff meine Handgelenke und führte sie sachte auf den Tisch zurück. „Das ist ein Buch über den Mond und die Sonne und Planeten. Ist doch okay“, erklärte er beschwichtigend. „Viele kleine Jungs wollen Astronaut werden.“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Er bereitet sich eben schon früh darauf vor.“
„Pfff“, seufzte ich und starrte in das Innere meiner Tasse.
„Wäre es dir lieber, er würde den Hustler lesen?“, lächelte Alf süffisant. „Vielleicht noch in englischer Originalausgabe?“
„Sind wir heute wieder witzig?“, schnarrte ich, ohne aufzublicken.
„Komm, Schätzchen. Freu dich doch einfach, dass Luca ein so schlaues Kerlchen ist.“
Ich stand auf, um mir Kaffee nachzuschenken. „Ja, klar. Und in nicht mal zehn Jahren sagt er mir dann, wie dumm ich bin.“
„Du weißt genau, dass er das nie tun würde, Tess-Schätzchen.“ Alf sah mich vorwurfsvoll an. Dann jedoch verzog sich sein Mund zu einem frechen Grinsen. „Braucht er schließlich auch nicht. Denn das tut deine Mutter ja schon.“
Unwillkürlich stieß ich ein verächtliches Lachen aus. „Du auch noch?“
„Schätzchen, ich doch nicht“, ereiferte er sich und hob abwehrend die Hände.
Ich schwenkte die Kanne vor seiner Nase. „Kaffee?“
Alf zögerte einige Sekunden und verdrehte die Augen, als er verstand. „Kaffee? Kaffee. Ach, so. Ja. Bitte“, stammelte er und hielt mir seine Tasse entgegen.
Ich schenkte ihm nach, stellte die Kanne zurück und lehnte mich an den Küchenschrank. Mit über der Brust verschränkten Armen beobachtete ich meinen Sohn. Er saß noch immer ganz vertieft über seinem Planetenbuch.
Luca war ein außergewöhnlich hübsches Kind und legte nicht weniger außergewöhnlich großen Wert auf seine Erscheinung. Schon mit vier Jahren traf er seine Kleiderwahl selbst. Ich kapitulierte, als er Mitte Dezember darauf bestand, seine coolen Skaterhosen zu tragen, statt der von mir vorgeschlagenen Thermojeans. Sein linkes Ohr zierte eine kleine Kreole. Es war sein Wunsch zum fünften Geburtstag. Jeden ersten Samstag im Monat suchten wir Alfs Frisörsalon auf und Luca legte ihm immer neue, mit Buntstift gezeichnete Haarkreationen vor, die mein bester Freund mit Feuereifer umsetzte. Derzeit trug Luca sein haselnussbraunes Haar an den Schläfen auf einen Millimeter rasiert. Das Deckhaar war länger und akribisch mit Gel in Form gebracht, sodass die blondierten Spitzen wie ein Hahnenkamm nach oben standen.
„Du schaust aus wie ein kleiner Punker“, frotzelte ich.
Doch Luca ließ sich nicht beirren. „Das ist trendy, Mama“, grinste er nur.
Ich ließ meinen Sohn gewähren. Er war für sein Alter nicht nur sehr selbstbewusst. Auf seinen kleinen Schultern trug er auch schon jede Menge Verantwortung. So kümmerte er sich seit über einem Jahr ganz allein hingebungsvoll um sein Meerschweinchen, Einsteins Theorie, und konnte sich bereits mit fünf ein kleines Mittagessen zubereiten, ohne die Küche in Brand zu setzen.
Liebevoll sah ich meinen Sohn an. Er war groß und schlank und hatte dichte, gerade Brauen, die tief über seinen Augen lagen. Die für ein Kind verhältnismäßig aristokratische Nase ergab mit den leicht hohen Wangenknochen ein anmutiges Gesamtbild. Das markante Kinn verlor angesichts seiner vollen Unterlippe an Strenge. Und ich liebte seine Augen, wie sie ständig geheimnisvoll funkelten. Sie waren von so intensivem, dunklem Blau wie Lapislazuli. Man glaubte, darin untergehen zu können, ohne zu ertrinken.
„Er kommt ganz nach seinem Vater“, seufzte ich gedankenverloren.
„Tess-Schätzchen. Du hast doch gar keine Ahnung, wer sein Vater ist. Also woher willst du das wissen?“
Ich senkte die Lider und drehte den Kopf langsam in seine Richtung.
„Sieh ihn dir doch an“, flüsterte ich Alf zu. „Er hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit mir. Also muss er zwangsläufig aussehen wie sein Vater.“
Alf warf einen Blick auf Luca und nickte kurz. „Tut es dir leid?“
„Leid?“, wiederholte ich überrascht und nahm wieder am Küchentisch Platz. „Luca ist das Beste, das mir in meinem Leben je passiert ist.“
Alf griff nach meiner Hand und drückte sie sanft.
„Aber mal ganz ehrlich, Schätzchen. Würdest du nicht gerne wissen, wer sein Vater ist?“
Ich schnaubte.
„Schon gut, schon gut“, ereiferte er sich und verstärkte den Druck. „Das Thema haben wir schon durch. Ich weiß.“ Er grinste und kniff die Augen zusammen, als sich ein Sonnenstrahl seinen Weg durch die Wolken direkt auf sein Gesicht bahnte. „Außerdem sind die Gerüchte, wer der Vater sein könnte, immer wieder herzerfrischend.“
„Vor allem die vom Bundeskanzler“, bespöttelte ich. „Dabei hat Luca sich selbst noch nie Gedanken über seinen Vater gemacht.“
„Oder es einfach noch nicht ausgesprochen?“ Alf sah mich an und blickte dann zu Luca hinüber. Dieser war noch immer völlig vertieft in die kosmische Atmosphäre und bekam von unserer Unterhaltung nichts mit. Vermutlich.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und griff nach der Schachtel Zigaretten, die in einer bunten Schüssel auf der Anrichte lag. Luca hatte sie in seinem letzten Kindergartenjahr gefertigt. Die Tonschüssel natürlich.
„Mama, du weißt doch, dass der Rauch für die Umwelt und für dich schädlich ist. Da kannst du sterben von!“ Luca hatte sich unbemerkt in die Küche geschlichen und schmiegte sich zärtlich an meine Schultern.
„Ich weiß, mein Spatz. Und du weißt, wie schädlich deine dauernden Kommentare deswegen sind, oder?“, entgegnete ich schmollend und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Deine Mama ist ein hoffnungsloser Fall, Luca-Schätzchen.“
Sie warfen sich zusammenstimmende Blicke zu.
„Ich geh dann noch mal ein bisschen auf den Bolzplatz. Kicken. Ja?“
„In Ordnung“, sagte ich.
Er hauchte mir einen Kuss auf die Wange und schnappte sich beim Hinausgehen seinen schwarzen Lederfußball. „Bis später, Alfi.“
„Hast du ihn schon beim FSV angemeldet?“ Alf legte sein Augenmerk auf den bekritzelten Notizblock, der neben mir lag.
Ich zündete mir eine Zigarette an, blies bedächtig den Rauch aus und griff nach meinem Kugelschreiber. Langsam zog ich das Papier herbei und studierte meine Notizen. „Ummeldung Grundschule“, las ich vor. „Hat noch prima geklappt. So kurzfristig, wie es war.“ Zufrieden hakte ich den Text ab.
„Konnte ja keiner wissen, dass der Laden so schnell dicht macht“, bemerkte er.
„Na ja“, erwiderte ich gereizt. „Bei der Geschäftsführung.“ Ich sah kurz von meinen Notizen auf. „Oben links.“
Alf suchte nach den dänischen Butterkeksen und hatte bereits sämtliche Schränke geöffnet und enttäuscht wieder geschlossen. Selbst für ihn war es nicht ganz einfach, sich in meinem mir angeborenen Chaos zurecht zu finden. „Aha. Ja, da sind sie ja.“ Er drehte sich mit einem feierlichen Grinsen zu mir um, während in Windeseile ein Keks nach dem anderen in seinem Mund verschwand. „Kann dir aber jetzt auch egal sein“, nuschelte er. „Hast ja wieder einen Job. Und was für einen!“
Mein Gesicht erhellte sich nur schwach bei dem Gedanken, in der übernächsten Woche meine neue Stelle als Sekretärin des Betriebs meines Schwagers anzutreten. Léon führte seit über zwölf Jahren ein gutgehendes Architekturbüro und hatte vor drei Monaten eine Außenstelle eingerichtet. Er selbst hielt sich die meiste Zeit in München, dem Hauptsitz, auf und besaß dort ein kleines Appartement. Er und meine Schwester Sarah bewohnten außerdem ein stattliches Häuschen mit ansehnlichem Grundstück in Hennelin, unserem Heimatort. Mit ihren beiden Kindern Enya und Miko gaben sie genau das Bild ab, welches unsere Eltern unter der Rubrik Lebensplanung erfolgreich abgeschlossenverbuchten. Ich hingegen war bei jedem Zusammentreffen den verständnislosen Vorwürfen meiner Mutter ausgesetzt und überstand diese Begegnungen nur dank der stillen Unterstützung meiner drei Jahre älteren Schwester relativ katastrophenfrei.
„Alfi“, bremste ich seine Euphorie. „Erstens bin ich nichts weiter als eine stinknormale Sekretärin...“
„...die dann aber dreihundert Euro mehr im Monat auf ihrem Konto hat als bisher. Außerdem solltest du deine Tätigkeit nicht so unterbewerten.“
„Und zweitens hätte ich diesen Job...“
„...auch bekommen, wenn du nicht seine Schwägerin wärst“, beharrte Alf und schob mir einen dänischen Butterkeks zwischen die Zähne.
Widerspruch zwecklos. Dennoch behielt ich meinen kritischen Gesichtsausdruck, während ich mich erneut den Notizen zuwandte.
Alf lächelte selbstzufrieden. „Umzugswagen?“
„Ist bestellt und kann morgen ab eins abgeholt werden.“
„Wohnung gekündigt?“
„Jepp.“
„Nachsendeantrag bei der Post gestellt?“
„Erledigt.“
Ich hakte einen Punkt nach dem anderen ab.
„Einwohnermeldeamt?“
„Alfi...“ Ich ließ den Kugelschreiber sinken und griff nach seinem Arm. „Luca und ich werden nur vorübergehend bei dir wohnen. Bis wir eine bezahlbare Wohnung gefunden haben. So war es abgemacht. Wir...“
„Jajaja“, tat er meine Aussage mit einer Handbewegung ab. „Zieht ihr nur erst mal ein und dann werdet ihr sehen, wie schön es bei dem guten, alten Alfi ist.“ Alfs Blick verdunkelte sich. „Ist doch sowieso viel zu groß für mich... Allein...“ Theatralisch warf er seinen Kopf zur Seite. Seine grünen Augen glänzten und begannen sich zu röten. Den Bruchteil einer Sekunde später schniefte er.
Ich stand auf und riss ein Blatt Küchenpapier ab. Als dem Schniefen ein leiser Schluchzer folgte, reichte ich ihm gleich die ganze Rolle.
„Armando hat eine solche Leere hinterlassen... In meinem Haus... In meinem Herzen... In meinem Leben...“ Inzwischen wurde er von Weinkrämpfen geschüttelt.
Ich kannte Alf nun schon mehr als dreißig Jahre. Dennoch überrumpelten mich seine plötzlichen Gefühlsausbrüche jedes Mal aufs Neue. Ich ging neben seinem Stuhl in die Hocke, umfasste seine nicht vorhandene Taille und lehnte meinen Kopf gegen seinen Bauch, der so rund und prall war, als hätte man einen Medizinball implantiert.
„Ich weiß, Alfi. Ich weiß. Wird ja alles wieder gut“, sprach ich leise auf ihn ein.
„Eine solche Leere“, bäumte er sich ein letzten Mal mit überschnappender Stimme auf, war aber innerhalb weniger Minuten schneller beruhigt als ein Säugling beim Zahnen.
„Wieder gut?“
„Wieder gut“, nickte er zaghaft und prustete kräftig in das siebte Blatt Küchenpapier.
Alf war eine emotionale Zeitbombe. Als wir mit zwölf Jahren gemeinsam Bambi auf Video gesehen hatten, brauchte ich annähernd zwanzig Minuten, um ihm glaubhaft zu versichern, dass Bambis Mama ein von Walt Disney erdachtes, nicht wirklich lebendes Reh war und konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, alle im örtlichen Telefonbuch registrierten Träger des Namens Jäger anzurufen, um diese aufs Übelste zu beschimpfen. Bis zum heutigen Zeitpunkt weigerte ich mich standhaft, mit ihm Titanic anzuschauen – um somit einige Damen und Herren Eisberg vor überraschendem Telefonterror zu bewahren.
„Hach, ich freu mich ja schon so auf euch“, jubelte Alf und untermauerte seine Aussage mit aufgeregtem Händeklatschen. Seine annähernd minutiös wechselnden Gefühlsausbrüchen hatten in der Schule so manchen Lehrer zur Verzweiflung gebracht.
Ein schwacher Lichtstreifen hatte sich durch das Fenster geschlichen und breitete ein Stück Spätsommer auf dem Küchentisch aus.
Versonnen stierte ich ins Leere. „Wir freuen uns auch, Alfi.“
„Wird es dir fehlen?“
„Was?“
Er warf einen Blick aus dem Küchenfenster. „Das Großstadtleben? Die Wohnung?“
„Der Lärm hier?“, fragte ich zynisch. „Der Gestank überall in den Straßen?“ Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Klar. Er wird mir fehlen, der Balkon und der Garten – den ich nie hatte. Und vor allem die Angst wird mir fehlen, wenn Luca fast zwanzig Minuten mit dem Rad unterwegs ist, nur um einen Bolzplatz zu finden, auf dem er Fußball spielen kann, ohne dass irgendein Hausmeister ihn zum Teufel jagt.“
Alf zwinkerte mir verständnisvoll zu. „Und die Schule ist auch gerade mal nur zwei Straßen weiter. Ist das nicht herrlich?“, strahlte er.
Gedankenverloren überprüfte ich den Sitz meines Bauchnabelpiercings. „Allerdings... Mit der Anonymität ist’s dann auch vorbei.“
„Früher war dir das egal.“ Alf sah mich beleidigt an. Fast, als hätte ich ihn persönlich angegriffen.
„Früher hatte ich auch noch kein Kind, dessen Vater ich nicht kenne“, gab ich schnippisch zurück. „Und ich hatte achtzehn Jahre lang einen Job in Frankfurt. Das schindete Eindruck.“
„Und...“
„Und jetzt“, fiel ich ihm ins Wort, „arbeite ich als Tippse in der Zweigstelle meines Schwagers, weil meine ehemals so angesehen Firma Pleite gegangen ist. Und ich ziehe bei meinem schwulen Kumpel ein, weil ich mir keine eigene Wohnung leisten kann. Große Leistung. Ganz große Leistung.“ Ich spürte, wie mein Gesicht zu prickeln begann.
„Nun übertreib aber nicht gleich mal so“, fuhr Alf mich an. Er war aufgestanden und baute sich vor mir auf.
Man konnte fast sagen, Alf war mindestens genauso breit wie hoch. Er verteilte stattliche hundertzehn Kilo Gewicht auf einen Meter zweiundsechzig. In seinem dunkelbraunen Cordzweiteiler sah er aus wie ein überdimensionaler Lebkuchen. Die grünen Augen blickten keck in die Welt und er hatte Wimpern, so lang, dass ihn jede Kuh im Allgäu darum beneidete. Die prallen Pausbacken nahmen bei der geringsten Aufregung oder Anstrengung eine zartrosa Färbung an.
„Hast du gehört?“, hakte Alf energisch nach und ich sah ein paar Schweißperlen auf seinem fast kahlen Kopf schimmern. „Tess? Teresa!“
„Mein Gott, ja!“, knurrte ich und ließ beide Handflächen auf den Tisch schnellen.
„Natürlich hast du noch immer keinen Vater für Luca. Aber“, er streckte seinen fleischigen Zeigefinger in die Höhe, „so sensationell war die Firma, in der du gearbeitet hast, nun auch wieder nicht. Und du wolltest eh aus dieser miefigen Großstadt raus, wenn Luca in die Schule kommt.“ Seine Stimme überschlug sich fast. Dazu gehörte allerdings nicht viel. Alf klang ein bisschen wie Daniel Küblböck. „Und der Grund, weshalb ihr vorerst bei mir wohnt, ist, dass...“ Alf verstummte und runzelte die Stirn.
„Was?“
„Tess-Schätzchen. Es wäre nett, wenn du in deinem üblichen Sprachgebrauch vielleicht das Wort ‚schwul’ durch ‚homosexuell’ ersetzen könntest?“
„Aber du bist doch schwul.“
„Homosexuell, Schätzchen.“
Ich rümpfte die Nase. „Es wäre auch nett, wenn du bei ‚Tess’ bleiben könntest?“
Einen Augenblick sahen wir uns ernst an. Als Alf jedoch zaghaft auf seine Unterlippe biss und sein Kinn zu vibrieren begann, brachen wir in schallendes Gelächter aus.
„Tereeesaaa!“, quäkte Alf.
„Schwuler Kumpel“, prustete ich.
„Das heißt ‚homosexuell’“, merkte Luca an. „Und das ist, wenn Männer Männer lieben.“
Ich fuhr zusammen. „Wann bist du denn nach Hause gekommen, mein Spatz?“
„Als du immer noch auf der Suche nach einem Vater für mich warst und einen blöden Job hattest.“
Alf horchte besorgt auf.
„Spatz, ich bin nicht auf der Suche nach einem Vater für dich...“
Luca legte seinen matschverschmierten Fußball auf den Küchentisch und kletterte auf meinen Schoß. „Weiß ich doch, Mama. Schließlich haben wir ja uns, oder?“