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Dienstag, 14. März 2023

Volle Lotte [2007]

KAPITEL eins

    Kalle ist weg.

 

    Diese elende Mistratte!

 

  Ich könnte heulen vor Wut. Zornig presse ich die Kiefer aufeinander, spanne die Bauchmuskeln an und balle meine Hände zu Fäusten, bis die Fingernägel tief ins Fleisch schneiden. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich ziehe feuchte Luft durch die Nase und wische mit dem Handrücken nach. Nicht gerade ladylike. Aber ich bin keine Lady und habe auch nicht den Ehrgeiz, eine zu werden. Also: Warum muss mir das passieren? War der Tag nicht schon beschissen genug?

 

    Jetzt halte mal den Ball flach, Charlotte, fordert meine innere Stimme, sooo schlimm ist das nun auch wieder nicht – hässlich wie der ist! Pfff... die hat gut reden! Ich weiß ja selbst, dass Kalle keine Schönheit ist. Mit Piercing im Ohr und Tattoo auf dem Arsch. Zugegeben, schon irgendwie bescheuert... aber eben das, was ihn ausmacht. Meinen Kalle, dessen Existenz ich zwar für möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich gehalten habe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Vor genau einem Jahr. Ausgerechnet in einem Buchfach-handel. Wie geil ist das denn? Meine innere Stimme schüttelt seufzend den Kopf.

 

    Mein Gott, was tu ich nur ohne Kalle? Resigniert lasse ich mich auf den Drehstuhl sinken. Mein Blick schweift zunächst ins Leere. Doch dann... unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen. Sein dünner rosa Schwanz ragt zwischen zwei Kosmetikdisplays hervor, die ich erst am Nachmittag im Büro zwischengelagert habe. „Du elende, stinkende Mistratte“, stoße ich fluchend aus und greife nach dem Lümmel. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Seufzend presse ich Kalle an mich.

    „Wird’s dann bald mal?“, tönt es unfreundlich vom Verkaufsraum zu mir herüber und Anne wuchtet ihren dicken Hintern ins Büro. Sie war auf dem Klo und zieht eine unverkennbare Duftnote hinter sich her. Anne macht gerade Kohlsuppendiät. Bäh! Wie ein Schwertransporter nimmt sie Fahrt auf. „Mein, Gott! So ein Gedöns um... um...?“ Anne grabscht nach Kalle und beäugt ihn kritisch. „Igitt, ist der hässlich.“

    Das musst du gerade sagen, denke ich und runzele verärgert die Stirn. 

 

    Anne fällt weder unter die Kategorie Wuchtbrumme noch Walküre. Damit hätte sie sich nämlich glücklich schätzen können. Anne ist dermaßen unförmig, dass man meinen könnte, der Schöpfer hätte Knete gespielt und sich nicht zwischen Giraffe und Walross entscheiden können. Dazu kommt ein Gesichtsausdruck, der unweigerlich an Zahnschmerzen erinnert. Mit ihrer chronisch schlechten Laune kontaminiert sie die Luft und ich frage mich allmorgendlich, warum, um alles in der Welt, ich mir das hier antue.

 

    „So“, sagt Anne und presst Kalle unwirsch an meine Brust, „und jetzt sieh zu, dass du endlich Land gewinnst. Ich will auch mal Feierabend machen.“

    Ich nicke erleichtert und husche durch den Personaleingang nach draußen.

    „Und morgen werden die Displays aufgestellt. Aber ordentlich!“

    „Geht klar“, verspreche ich und füge leise hinzu: „Olle Sklaventreiberin.“

    „WAS?“, plärrt Anne und hält sich die Hand hinters Ohr.

   „Daaa sind tolle Faaarben driiin!“ Ich öffne hastig die Tür meines neunundsechziger VW Käfers. Wir haben dasselbe Baujahr. Der Käfer und ich. Er tuckert allerdings wesentlich munterer durch die Welt. Zumindest heute.

    „Jaja“, plärrt Anne, was so viel heißt wie mir doch scheißegal, ich muss den Mist ja nicht machenund pfriemelt weiter am Sicherheitsschloss des Drogeriemarkts. „Und du besorgst dir mal ’nen Neuen. Der da ist ja echt abartig.“ Damit meint sie Kalle.

 

    Stimmt. Ich betrachte Kalle, der jetzt noch schmuddeliger ausschaut als zuvor. Aber mir gefällt er. So wie er ist. Die graue Plüschratte mit Ring im Ohr und eingesticktem Arschgeweih. Der schönste Schlüsselanhänger, den ich je gesehen habe. So einfach ist das. 

 

    Ich drehe mich noch einmal um. Eine blöde Eigenschaft. Eine saublöde Eigenschaft, obgleich auch nur in Zusammenhang mit Anne. „Sag mal, brauchst du vielleicht Hilfe?“

    Meine Chefin gibt undefinierbare Laute von sich. 

 Wider besseren Wissens schließe ich die Wagentür und gehe zurück zum Drogerieeingang. „Klemmt es wieder?“

    Annes Gesicht ist inzwischen rot und die Anstrengung treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn. „Was denn sonst?“, knurrt sie und zerrt am Schlüssel.

    „Du solltest nicht einfach nur nach hinten ziehen“, rate ich ungefragt und bereue es schon, während ich es sage, „sondern ein klein wenig dabei ruckeln. Das kenn ich von Fri... meinem Käfer.“

    Anne hält einen Moment inne und dreht dann langsam ihren Kopf in meine Richtung. „Hat deine Schrottkarre etwa auch einen Namen?“

    Mir steigt das Blut in den Kopf. Er heißt Fritzi. Aber das werde ich Anne jetzt ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. „Ähm... ich wollte nur behilflich sein.“

  „Na“, sagt Anne und schiebt ihren Hintern beiseite. „Dann mach mal, du Besserwisserin.“

 

    Ich seufze leise. Anne ist nicht gerade das, was man umgänglich nennen würde. Sie ist unzufrieden und launisch. Sie ist ungerecht, herrschsüchtig und liebt es, mich vor den Kunden bloßzustellen. Ich bin überzeugt, selbst der Dalai Lama wäre ihr schon an die Gurgel gesprungen. Seit fünf Jahren arbeite ich in der kleinen Drogerie, die Anne von ihrem Vater übernommen hat. Und in diesen fünf Jahren hat sie keinen Tag ausgelassen, um mich zu schikanieren.

  

    Ich gehe in die Hocke und sondiere zunächst die Lage. Dann justiere ich den Schlüssel.

    „Wird das noch was?“, raunt Anne ungeduldig.

    „Immer mit der Ruhe“, erkläre ich und rüttele unter vorsichtigen Ziehbewegungen am Schlüssel. „Sonst bricht...“

    „Red nicht und lass mich mal!“ 

    Aus dem Augenwinkel sehe ich Annes breiten Hintern in rasanter Geschwindigkeit auf mich zukommen und fürchte fast, zwischen ihren Arschbacken zu verschwinden. Beinahe zeitgleich spüre ich den Aufprall. Mein Fuß knickt um, ich strauchle zur Seite und lande mit Wucht auf meiner Handtasche, in der es verdächtig knackt. „Oh!“

    Annes Blick fällt zunächst aufs Schloss, dann auf das Metallstück in meiner Hand. „Der ist abgebrochen“, schlussfolgert sie.

    „Jepp“, schlucke ich und erwarte ein Donnerwetter.

   Doch Anne räuspert sich nur und kramt in ihrer Tasche nach dem Handy. Mit speckigen Fingern wählt sie die Nummer des Schlüsseldienstes. „Wanne hiiieeer“, flötet sie ins Telefon, das fast vollständig unter ihrem Doppelkinn verschwindet. „Friiiedje, mein Bester, wir haben einen kleinen Notfall...“ Sie fährt sich immer wieder durchs Haar und sieht versonnen in den dunklen Januarhimmel. „Charlotte, meine Angestellte... ... Hat man immer Ärger mit. ... Jaaa. ... Hat den Schlüssel vom Haupteingang abgebrochen. ... Ach, ungeschickt. ... Wie sie eben so ist. ... Hmhm.“

 

    Ich erhebe mich langsam. Die schmutzigen Hände wische ich an meiner Hose ab und lausche dem Telefonat, das sich wie der letzte Versuch einer notgeilen Mitvierzigerin anhört – und wahrscheinlich auch ist. 

    „So, meine Liebe.“ Anne verzieht das Gesicht zu einer Fratze und lässt das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden. „Mach dir keine Sorgen“, säuselt sie schmallippig. „Wendelin Junior schaut gleich noch vorbei und richtet das Malheur. Du kannst nach Hause gehen.“

    „Ähm, soll ich nicht... ich meine...?“ Das stinkt. Das stinkt gewaltig. Ganz gewaltig! 

    Annes Gesicht leuchtet wie eine überreife Tomate. Ich tippe der Einfachheit halber auf eine hormonelle Ausfallerscheinung. Aber angelächelt – und das soll es wohl sein, was sie da mit ihren Gesichtsmuskeln veranstaltet – hat sie mich noch nie.

    Anne winkt mit erhobenen Händen ab. „Nein, nein. Geh du nur. Die Rechnung werfe ich dir dann in den Briefkasten.“

    Hab ich’s nicht gesagt? Nickend wende ich mich zum Gehen. 

    „Ach, Charlotte?“

    Ich bleibe stehen. Was denn noch?

    „Du bist zum ersten April gekündigt.“ 

 

KAPITEL zwei

 

    Als ich Fritzi zehn Minuten später am Straßenrand parke, habe ich Annes Worte noch immer nicht verinnerlicht. Gekündigt? Das kann doch nicht sein! Schließlich bin ich Alleinverdienerin. Nur aus diesem Grund schufte ich für einen Hungerlohn fünf Tage in der Woche von acht bis sieben in Annes inzwischen schon schwer heruntergewirtschafteten Drogerie. Und gerade jetzt, wo im nahegelegenen Industriepark Drogerien, Supermärkte und Boutiquen wie Pilze aus dem Boden schießen, ist noch mehr Einsatz gefordert – den ich ohne Zögern ableiste. Ich bin ein Arbeitstier.

 

    Tillmann, mein langjähriger Lebensgefährte und Vater meiner beiden Kinder, widmet sich seit Abschluss seines Soziologie-studiums voll und ganz der Erziehung unserer Sprösslinge. Ich bin stolz auf seine Leistung. Was den Haushalt betrifft, hat er zwar ein weniger gutes Händchen. Aber auch das nehme ich gelassen hin. Wussten Sie eigentlich, wie entspannend Mitternachtsbügeln sein kann? Oder wie viel Kalorien man beim Fensterputzen verbraucht? Und dass das richtige Spülmittel tatsächlich zarte Hände macht? Verheiratet sind Tillmann und ich nicht. Wieso auch? Die Einzige, die Anstoß daran nimmt, ist meine Mutter. Und selbst sie hat sich nach achtzehn Jahren wohl daran gewöhnt. Nur dass Tillmann weder behördlich noch notariell die Vaterschaft von Lilli und Paul anerkannt hat, ist ihr nach wie vor ein Dorn im Auge. Mir macht das nichts aus. Ich liebe Tillmann und Tillmann liebt mich. 

 

    Zu meiner Verwunderung ist gerade jetzt kein einziges Mitglied meiner heißgeliebten Familie zugegen. Auch gut. Ich benötige dringend und vorrangig eine bewusstseinserweiternde Droge. Diese gönne ich mir in Form eines selbst aufgebrühten Mokkas und einer Kippe in der Küche. Dazu reiße ich die beiden mickrigen Flügelfenster über Spüle und Arbeitsplatte auf, damit nicht zu viel Qualm in der Wohnung steht, wenn meine Familie nach Hause kommt. Sie wird mich formvollendet bedauern, weil Anne heute eindeutig den Bogen überspannt hat. Das werde ich ihnen kläglich berichten.

 

  Gefeuert. Anne hat mich gefeuert. Langsam brennt sich diese Tatsache in mein Bewusstsein ein und mir wird klar, welche Konsequenzen das auf unsere Zukunft hat. Ich sehe mich schon beim Arbeitsamt sitzen und Stunden in den Fluren des Sozialamts verbringen. Meine Kinder muss ich in die Suppenküche schicken, damit sie wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag bekommen, Tillmann werden die Haare vor Kummer ausgehen und irgendwann sterben wir alle an Magersucht oder verfallen dem Suff. Wobei wir uns Letzteres gar nicht leisten können.

 

    Schnell schüttele ich diese Gedanken ab. Jetzt übertreibst du aber, schimpft mich meine innere Stimme. Und sie hat Recht. Ich rufe Tillmann an, um unseren Familienrat einzuberufen. In meiner Tasche krame ich nach dem Handy. „Autsch!“ Irgendwas hat mich gestochen. Ich schütte den kompletten Inhalt auf den Küchentisch und mein Handy kommt zum Vorschein. Oder das, was davon noch übrig ist. Das Display hat’s zerlegt. Mit voller Wucht. Die kleinen Splitter zerstreuen sich über die ganze Fläche. Zwei Teile stecken in meinem Zeigefinger. Na, klasse. Aber noch ein Grund mehr, mich ausgiebig bedauern zu lassen. 

 

    Dann eben übers Festnetz. „Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar“, klärt mich eine freundliche Stimme auf und wiederholt selbiges in Englisch. Mensch, Tillmann, wo treibst du dich nur rum? Nicht einmal das Abendessen hat er mir vorbereitet. Gähnende Leere im Kühlschrank. Ich schmolle mit meinem durch Abwesenheit glänzenden Liebsten und beschließe, zunächst unter die Dusche zu springen und mir dann eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben. 

 

    Ich habe mich gerade aus meinen Klamotten geschält, als unsere Wohnungsklingel hektisch kreischt. Sicher hat Lilli ihren Haustürschlüssel vergessen. Rasch wickle ich mich in ein Badetuch und eile zur Tür.

    „Tachin, Frau Freund“, begrüßt mich der olle Herr Treudl, unser Vermieter, und bekommt angesichts meiner freizügigen Erscheinung Stielaugen. „Ick hab hier Ihre Kisten.“

    „Kisten?“, frage ich nach einem kurzen Moment der Verwirrung. „Welche Kisten denn?“ Die Verwirrung hält immer noch an. Aha.

    „Sum Umsien“, nuschelt er und stiert ungeniert auf meine nackten Schenkel. „Zwanzeh Dingers.“

    Ich kann diesen Typen nicht leiden. Und jetzt, nachdem ihm vor vier Wochen seine blutjunge und zugegeben über die Maßen attraktive Ehefrau völlig überraschend weggelaufen ist, schon gar nicht mehr. Völlig testosterongesteuert stiert er jedem Wesen nach, das auch nur ansatzweise weiblich ist oder sein könnte. 

    „Herr Treudl, ich verstehe Sie nicht. Tut mir leid.“

    „Uuum-siiieeen!“, wiederholt er, als sei ich geistig minder-bemittelt. „Sach-chen rein-tun.“ 

    Ich kapiere immer noch nicht. „Welche Sachen denn?“

    Treudl schüttelt mitleidig den Kopf. „Hier“, reicht er mir einen zerknitterten Brief, „ick hab’s ooch noch mal schriftleh. Für die janz Doofen. Tschüss denn.“ Damit lässt er mich, nicht ohne noch einen letzten, lüsternen Blick auf meinen Busen zu werfen, stehen.

 

    Unverschämter Pappsack! Ich ignoriere die zwanzig gefalteten Kartons, die den halben Flur blockieren, und ziehe mich mit dem von Kaffee- und Fettflecken übersäten Brief in die Küche zurück. Sehr geehrter Herr Bübchen, lese ich, wie Ihnen bereits mündlich mitgeteilt, kündigen wir das bestehende Mietverhältnis der Wohnung wegen Eigenbedarfs zum einunddreißigsten Januar. Hä? Ich stutze. Nee, so einfach geht das nicht! Da gibt es Fristen! Ich werfe einen erneuten Blick auf das Schreiben. Datiert vom Mai letzten Jahres. Ich lese den Brief ein zweites und ein drittes Mal. Doch auch beim vierten Lesen ändert sich nichts am Inhalt – und der Tatsache, dass Tillmann, mein geliebter Partner und Vater meiner Kinder, von der Wohnungskündigung gewusst haben muss. Na, der kann heute Abend was erleben!

 

    Verdammt, wo bleibt er nur? Wo steckt er überhaupt? Und wo sind meine Kinder? Erneut wähle ich Tillmanns Nummer. Und erneut erklärt mir die nette Dame am anderen Ende der Leitung gleich zweisprachig, dass mein gewünschter Teilnehmer, zum Teufel noch mal, gerade nicht zu erreichen ist! Wäre es jetzt nicht an der Zeit, nervös zu werden? Ich schiele zur Uhr. Gleich halb acht. Ja, es ist an der Zeit, nervös zu werden.

 

    Ich schlüpfe ungeduscht in meinen Hausanzug, setze mich wieder in die Küche und trommle mit den Fingern auf die Tischplatte. Aber bringt ja auch nichts. Definitiv. Also werfe ich einen Blick in meine Mokkatasse, die umgestülpt auf dem Unterteller dümpelt. Von meiner Oma habe ich das Lesen im Kaffeesatz gelernt. Ich kneife die Augen zusammen und betrachte konzentriert die verrotzte, braune Masse, die sich malerisch über das Tasseninnere ergießt. Ich sehe einen Mann mit Koffer oder ähnlichem, und noch eine weitere Person, dicht daneben. Sind das der schmierige Treudl mit seinen blöden Umzugskartons und sein bescheuerter Neffe, der sich zurzeit ständig hier rumtreibt? Auf der gegenüberliegenden Seite zwei Häuser. Unverkennbar. Mittig vier Menschen, gefolgt von zwei undefinierbaren Pünktchen, die im Entenmarsch von einem zum anderen wandern. Was soll das denn sein?

 

    Ich wähle ein letztes Mal Tillmanns Nummer. Wie erwartet, erfolglos. Hilft nix. Jetzt rufe ich Mama an. Doch auch hier nimmt niemand ab und allmählich macht sich Panik in mir breit. Als es klingelt, schrecke ich hoch. Dabei fällt die Mokkatasse zu Boden und zerspringt in zwei Teile. Zu meinen Füßen landet das Teil mit den beiden Wanderern. Jetzt klingelt es Sturm und ich haste in den Flur. Kein Kunststück, wenn man in einer Wohnung lebt, die die Größe eines Schuhkartons hat. Meine Wangen glühen, als ich die Tür aufreiße.

    „Mama?“

    Meine Mutter nickt und schiebt sich mit einem rotbäckigen, rotznasigen Paul in die Wohnung. „Na, Kind?“

    „Hallo, mein Schatz“, gehe ich vor Paul in die Hocke und betrachte ihn besorgt. „Was ist denn mit dir los?“ Ich streichle über sein warmes Gesicht. „Dir geht’s nicht gut?“

    Paul nickt und ich presse ihn sanft an mich.

    „Er hat sich erkältet, Charlotte. Mehr nicht.“ Mama tätschelt mir beruhigend die Schulter. „Ich war heute früh mit ihm beim Doktor, und etwas gegen sein Fieber hat er auch schon bekommen. Ach, und hier“, sie kramt in ihrer Tasche, „ist seine Krankenkassenkarte.“

    Ich nehme ihr das Chipkärtchen ab und bin leicht irritiert. „Wieso war Tillmann nicht mit ihm beim Arzt?“

    Mama seufzt und zieht die Schultern nach oben. „Er brachte mir Paul heute Morgen vorbei und sagte, er habe noch etwas zu erledigen. Ich möchte ihn um halb acht nach Hause bringen.“

    „Was hatte er denn so Wichtiges zu erledigen?“, frage ich gereizt. Einerseits, weil ich von nichts weiß und andererseits, weil er mein krankes Kind bei der Oma geparkt und mich nicht darüber informiert hat.

    Wieder antwortet meine Mutter mit einem Schulterzucken. „Kann ich dir nicht sagen, Lottchen. Tillmann war ziemlich in Eile. Ist er denn nicht schon wieder zu Hause?“

    „Nee“, knurre ich.

    „Alles in Ordnung zwischen euch?“ Sie legt mir fürsorglich die Hand auf die Wange.

 

    Eigentlich dachte ich, ja. Aber nachdem ich das Kündigungs-schreiben für unsere Wohnung gelesen habe, kommen mir gerade berechtigte Zweifel. Sollte ich meiner Mutter...?

 

    „Gehst du bitte schon mal ins Bad und machst dich bettfertig, Paul?“

    Mein Sohn nickt schwächlich. Er ist jetzt zehn Jahre und außerordentlich selbständig. Doch wenn sie kränkeln, sind alle Männer gleich. 

    „Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst. Ich bin mit Oma in der Küche.“

    Meine Mutter versteht und geht voran. 

    „Guck mal“, sage ich und schiebe Treudls Brief über den Tisch. 

    Sie liest den Wisch, runzelt die Stirn und sieht zu mir auf. Dann liest sie ihn ein zweites Mal und schüttelt den Kopf. Nach dem dritten Lesen grübelt sie. „Vielleicht... vielleicht hat er ja einen Termin mit einem Makler und... und...“

    „Und hat ein idyllisches Häuschen im Grünen gefunden?“ Ich zünde mir eine Zigarette an. „Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“

    Mama hustet gekünstelt. „Bäh, das stinkt.“

    Ich weiß, das stinkt gewaltig. Genauso wie Annes Lächeln vor ein paar Stunden. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

    „Deine Zigarette! Muss das sein?“ Mutter fuchtelt wild vor ihrem Gesicht herum.

    „Mama“, ignoriere ich ihre wilden Gesten, „Anne hat mir zum ersten April gekündigt.“

    Ich sehe, wie meiner Mutter mit einem Schlag die Farbe aus dem Gesicht weicht. „Mit so etwas macht man keine Scherze, Charlotte.“

    Ich schlucke den Klos in meinem Hals hinunter und nehme einen kräftigen Zug aus meiner Zigarette. „Sieht Anne wie ein Witzbold aus?“

    Sie schlägt die Hand vor den Mund. „Oh, nein...“

 

    Ich höre einen Schlüssel knacken. Tillmann! 

    „Wo warst du, verdammt noch mal?“, raune ich, noch bevor die Tür zurück ins Schloss gefallen ist, und springe auf. 

    „Bei Lea.“ Lillis Stimme klingt belegt. Ihre Augen sind rot und verquollen.

    Ich erschrecke. „Schatz“, streiche ich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Was ist los?“

    Meine siebzehnjährige Tochter schüttelt den Kopf, während sich ihre Augen mit Tränen füllen.

    Sanft fahre ich mit der Hand über ihre Wange. „Tim?“

    Sie wirft ihre Arme um mich und bricht in erbärmliches Schluchzen aus. Ihre Fingernägel krallen sich tief in meinen Rücken. Sie zuckt am ganzen Leib. 

 

    Auch das noch! Ist heute ein sprichwörtlicher Verlierertag? Ich verliere meinen Job, unsere Familie verliert die Wohnung, Lilli verliert ihren Freund... verliere ich jetzt vielleicht auch bald meinen Verstand?

 

    „Ich glaube, ich lasse euch jetzt lieber mal allein.“ Meine Mutter streichelt ihrer Enkelin übers Haar und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Wegen... wegen allem anderen reden wir morgen.“ An der Tür wirft sie noch einmal einen sorgenvollen Blick auf das Häufchen Elend, das Lilli und ich gerade darstellen. „Kannst mir Paul morgen früh gerne vorbeischicken, wenn er noch krank ist. Nur falls Tillmann... also... du weißt Bescheid.“

 

    Ich nicke dankbar. Aber Bescheid weiß ich keineswegs. Mir schwirrt der Kopf.