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Samstag, 4. Juni 2022

Mama Mia [2006]

Man stelle sich mal vor...  

...ein lauer Sommertag. Warmer Wind bläst mir um die Nase und bringt die Blätter in den Bäumen zum Rascheln. Der nächtliche Regenschauer verhilft der Natur zu neuer Kraft. Die Sonne nimmt eine kleine Auszeit und legt sich hinter zarten Schäfchenwolken schlafen. Ich atme tief ein und genieße das aufgeweckte Gezwitscher der Jungvögel. Kurz gesagt: Nach wochenlanger Hitze tut es gut, zur Abwechslung mal nicht im eigenen Saft zu schmoren, sich dabei wie ein Grillhähnchen zu fühlen und sämtliche Energie über die Poren auszuscheiden. 

 

Ich bin Mia. Pseudophilosophin (eine der übelsten Sorte), zweifache Mutter, Ehefrau, berufstätig, ehrenamtliche Psychotherapeutin – und gerade auf dem Weg zur Wohnung meiner Eltern, um noch einmal kurz durchzuwischen, bevor sie aus ihrem sechswöchigen Australienurlaub zurückkehren.

 

Noch einmal: Ich bin Mia. Tochter, Mutter, Ehefrau, Schwester.

 

Und Männer sind Schweine...

 

 

KAPITEL eins

 

Männer sind Schweine – Frauen aber auch. Um hier mal den ultimativen Frauenversteher Mario Barth zu zitieren. Ein repräsentatives Beispiel tummelt sich gerade im Gästebett meiner Eltern.

 

Ich stehe wie festgenagelt in der Diele und verfluche gedanklich die Schweißfüße meines Vaters. Warum, in Gottes Namen, haben sich bei mir nicht seine athletischen Gene durchgesetzt? Stattdessen neige ich zu Übergewicht und frühzeitig ergrautem Haar. Und Schwitzattacken unter den Fußsohlen...

 

Vorsichtig sendet mein Hirn Signale an die Beinmuskulatur und löst den Bewegungsreflex aus:  Den rechten Oberschenkel spannen, das dazu passende Knie Millimeter um Millimeter nach vorne ausrichten, bis sich die Sohle zaghaft vom Laminat löst. Rrrtsch! Es dröhnt in meinen Ohren, als ziehe man einen fabrikneuen Klettverschluss der Größe eines Bundesligaspielfelds von einem deutsch-demokratischen Polyesteranzug. Mein Knöchel knackt. Erschrocken halte ich die Luft an. So lange, bis ich rosa Schweinchen mit grünen Punkten Samba tanzen sehe. Mir wird schwindelig und ich stütze mich am Türrahmen ab.

 

„Was machst’n dich schon wieder so verrückt?“, würde mein Mann, seines Zeichens Fachkraft für Heizung und Sanitär, in dieser Situation sagen. „Jetzt wart’s doch erst mal ab!“

 

Ja. Genau das würde er jetzt sagen – wäre er nicht just in diesem Moment damit beschäftigt, sein Rohr zu verlegen. Im lilaseidenen, eicherustikalen Gästebett meiner Eltern. In meiner Schwester. Meiner kleinen Schwester Pia. 

 

Ich koche auf allen Kesseln und will in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung ordentlich Dampf ablassen, als ich in den Raum trete und feststellen muss, dass meine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Hallo? Außer mir noch jemand hier? 

 

Starr richten sich meine Augen auf die beiden verschwitzten Körper, die sich schier in Ekstase vögeln. Meine Schwester wippt auf und ab, wirft immer wieder den Kopf in den Nacken und fächert ihr langes, blondes Haar mit beiden Händen über ihre makellosen Schultern. 

 

Mein Ehemann brummt wie Bruno, der Bär, und gibt in regelmäßigen Abständen Laute von sich, als klemme ihm Speedy Gonzales zwischen den Arschbacken. Er wirft die Arme von sich und krallt seine Hände in die umliegenden Stofftiere, denen das blanke Entsetzen in den Knopfaugen geschrieben steht. Ich hoffe bloß, mir bleibt ein gekeuchtes Come on, baby, sit on my face and sing the La Bamba! erspart. 

 

Doch das Glück ist mir nicht hold (was habe ich auch erwartet?). Ein traurig zerknautschter Plüschhund fliegt mir ins Gesicht, und noch bevor ich die Fussel und Staubflusen aus meiner Nase gekräuselt habe, klemmt der erhitzte Kopf meines Mannes zwischen Pias völlig orangenhautfreien Oberschenkeln.

 

Wie war das noch mal mit den beiden Jägern, von denen der eine sagte: „Wenn ich mal meine Frau beim Fremdgehen erwische, knalle ich ihr den Kopf weg. Und dem Typ das Gemächt!“, worauf der andere (den Blick durchs Fernglas auf eine Waldlichtung gerichtet) antwortet: „Wenn du dich beeilst, reicht ein Schuss!“?

 

Warum kann ich gerade jetzt nicht darüber lachen? 

 

Ach ja!

 

Zwischen AhhhsOhhhs und Jaaas vernehme ich immer wieder akuter Atemnot ähnelnde Hmmms und ein Geräusch, als würde sich ein Milchshake seinem vorbestimmten Ende nähern. Meine Brillengläser beschlagen beinahe bei ihrem Anblick. Ich bin weiß Gott nicht prüde. Und es liegt auch sicher nicht an den Praktiken, die mir zugegebenermaßen nicht fremd sind. Wobei... Nicht fremd heißt in diesem Fall, dass ich Sex dieser Art nicht täglich betreibe. Oder aber, dass ich Sex nicht täglich betreibe. Gut. Um es ganz genau zu sagen: Dass ich schon lange keinen Sex mehr betreibe.

 

Mir wird schlecht.

 

Gerade als Pia sich gewohnt grazil, anmutig und leicht wie eine Feder windet, um Florians Zollstock mit ihren permanenttätowierten Lippen zu verwöhnen, fällt ihr Blick auf die japsende Gestalt im Türrahmen.

 

„Miiiaaa!“, stößt sie beinahe hysterisch hervor. 

„Mia?“, nuschelt die Stimme aus ihrem Genitalbereich.

„Mi-a!“, gibt sie dem Wort mit einem festen Schlag auf Florians stramme Waden Nachdruck.

„Mia!“, keucht dieser und sitzt nur Sekundenbruchteile später aufrecht im Bett. 

Pias Beine liegen, nun sinn- und hilflos, auf seinen Schultern. Einen Moment fürchte ich, ihr Rückgrat könnte in dieser Position brechen und will instinktiv zu Hilfe eilen.

 

Hallo? Sie ist meine kleine Schwester! Da wird man sich ja wohl Sorgen machen dürfen.

 

Doch ich halte inne. Der Druck auf meiner Brust nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich atme tief ein, bin aber kaum mehr imstande, den Sauerstoff aus eigener Kraft wieder auszustoßen. Zittrig wühle ich in den Taschen meiner Jogginghose, Größe zweiundvierzig, nach dem Asthmaspray (der Himmel weiß, wieso ich es ausgerechnet heute eingesteckt habe).

 

Sag jetzt bloß nicht: Es ist nicht das, wonach es aussieht!

„Mia“, hebt Florian abwehrend die Hände. „Es ist nicht das, wonach es aussieht!“

 

Er hat es gesagt! 

 

Mir ist, als falle nicht nur gleich meine Lunge, sondern auch ich selbst in mich zusammen.

 

Pffft! Ich nehme einen Hub des bronchienerweiternden Cortison-Sauerstoff-Gemisches, schließe die Augen und halte sieben Sekunden die Luft an, bevor ich langsam durch die Nase ausatme. 

 

Nase. Meine Nase. Etwas knubbelig, nicht wirklich zu groß, halt auch nicht unbedingt klein. Florian zog mich schon zu Beginn unserer Beziehung gerne damit auf. „Stupsnäschen“ hatte meine Omi sie immer genannt und mir zärtlich mit dem nach Maiglöckchen und Streuselkuchenteig duftenden Zeigefinger auf das Riechorgan getippt. Ich freute mich. Damals. Denn meine Nase gehörte zu meinen Pausbäckchen und meinen kugelrunden, dunkelbraunen Augen mit den langen, dichten, schwarzen Wimpern. Und das fanden die Erwachsenen süüüß! Fünfzehn Jahre später habe ich noch immer Pausbäckchen und große, dunkelbraune Augen mit langen, dichten, schwarzen Wimpern. Doch mein olfaktorisches Sinnesorgan ist inzwischen zur „Kartoffelnase“ mutiert. Sagt zumindest Florian. Aber er ist eigentlich der Einzige, der das sagt.

 

Pia hat sich mit einer flinken Bewegung aus ihrer orthopädisch unvorteilhaften Position befreit und sitzt nun, die Beine angewinkelt und durch das zerwühlte Laken nur notdürftig bedeckt, dicht neben meinem Mann, ihrem Schwager. Ihre Haare sind zerzaust und auf den Schultern funkeln Schweißperlen wie Regentropfen auf feinstem Meißner Porzellan. Ohne es zu wollen, erinnert sie mich an das Bild in unserem Badezimmer: 

 

Marilyn Monroe im weißen Ballerinakleid – wie sie mit der Kamera flirtet, den Verschluss am Rücken halb geöffnet, die Brust unauffällig mit Hilfe des rechten Unterarmes in eine ansehnliche Position gerückt. Die Träger krabbeln langsam, wie kleine Raupen auf frisch rasierter und mit hochkonzentrierter Pflegecreme behandelter Haut, über ihre Schultern... 

 

Zugegeben: Hier ist viel Fantasie im Spiel. Aber wer kann, der kann.

 

Zwei große, blaue Augen blicken um Verständnis heischend zu mir auf. 

 

Mein Gesicht nimmt Züge an, die ich selbst nicht definieren kann. Ich vermeide es grundsätzlich, in solchen Augenblicken in den Spiegel zu schauen. Und das nicht nur wegen des blöden Gesichtsausdruckes. 

 

Die Bilder, die zusammengesetzt wie ein Daumenkino zu kleinen Filmen mutieren und durch meinen Kopf huschen, sind oft mehr als Mensch zu sehen vermag. Just blendet sich folgender Spot ein:

 

„Pfff.“ Ich atme scharf aus und sehe vorwurfsvoll auf sie herab.

Pia schiebt ihre Unterlippe nach vorn, ihr Kinn zittert. Sie presst eine Träne aus dem rechten Auge. Die wohlgeschwungenen Augenbrauen verformen sich dramatisch und ihre Stirn liegt in verzweifelten Falten. „Och, Mennooo...“

„Nein“, stampfe ich kurz mit dem Fuß auf und muss mich von ihr abwenden. „Nein, Pia. Dieses Mal nicht!“

„Miii-aaa“, schnurrt sie wie eine Katze vor der frisch gezapften Kuh. 

Mein Herz krampft.

„Büddeee!“

„Nee!“

„Aber der gefällt mir doch so gut“, fleht sie und fügt leise hinzu: „Ich brauch den unbedingt!“

Ich seufzte.

„Kriegst ihn auch wieder zurück.“ Sie hat Blut geleckt. „Frisch gewaschen und ohne kaputt gemacht. Versprochen!“

Meine Schultern verdünnisieren sich und hängen nun jenseits von Gut und Böse. 

 

Pia hat es geschafft. Sie hat es wieder einmal geschafft.

 

Aber hier geht es nicht um einen pinkfarbenen Angorapullover. Hier geht es um meinen Mann, dem Vater meiner Kinder. Es geht um Vertrauensbruch. Es geht um meine Schwester. Und es geht um... 

 

Was, um alles in der Welt, haben die beiden mit der Bettwäsche gemacht?

 

„Was, um alles in der Welt, habt ihr mit der Bettwäsche gemacht?“ 

Ich hechte nach vorn, ganz zum Entsetzen des vermeintlichen Liebespaares, und inspiziere den zartlila Seidenstoff. Abgesehen von den vielen, ihre eigene Geschichte erzählenden Falten und verräterisch eingetrockneten sowie noch frischen Spermaflecken, zieht sich ein Riss durch das Gewebe, der etwa ein Drittel des gesamten Stoffes misst.

„Spinnt ihr?“

Pias Hand streckt sich nach meiner aus. Sie sendet flehentliche Signale. „Bitte, Mia, lass dir erklären...“

Doch mein Geist ist keinesfalls auf Empfang gestellt. „Ihr habt sie wohl nicht mehr alle“, brause ich auf und habe nur einen einzigen Gedanken: „Die habe ich Mama und Papa zum zweiunddreißigsten Hochzeitstag geschenkt! Wisst ihr eigentlich, wie teuer das Bettzeug war? Beim Exquisite Couché zahlst du ja allein für den Namen schon fünfzig Euro!“

„Mia?“ Florians Augen richten sich irritiert an Pia. 

Doch auch sie sieht mich nur ratlos an.

„Hm.“ Ich schnaube fest aus und verlasse entschlossen den Tatort.