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Montag, 5. Juni 2023

Leevlütte [2015]

    Leev, die [Leev] Substantiv, feminin

    (bezeichnet im niederdeutschen Sprachraum die Liebe)

 

 

PROLOG

 

    In einem Tattoostudio irgendwo in Südhessen...

 

    Evan schüttelte den Kopf und seufzte nachsichtig. Ein derartiges Verhalten kannte er nur zu gut. Allerdings von seinen Oberstufenschülern und nicht unbedingt von einem gestandenen Mann Anfang fünfzig. Und das war Joseph Hunter.

    „Hunter, wenn eine Frau Was? sagt“, deklamierte Evan, „dann nicht, weil sie es nicht gehört hat. Sie gibt dir nur die Chance, das Gesagte noch einmal zu überdenken. Und zu revidieren.“ Er blickte zu dem großflächig tätowierten Adonis hinüber, an dessen Nase ein schneeweißer Hundewelpe nagte. „Solltest du aber wissen.“

    „Weiß ich“, log Joe und fügte abfällig hinzu: „Klugscheißer.“

    Evan rollte unweigerlich mit den Augen und brummte: „Schon klar.“

 

    Elias steckte das Smartphone weg, nachdem er die Nachricht seines Onkels Gregor gelesen hatte, und ließ sich entspannt auf dem Ledersofa nieder. „Mum hat geduscht und macht es sich gerade im Wohnzimmer bequem“, informierte er seinen Vater, Joe, und Evan, den besten Freund seiner Mutter. „Gregor wird jetzt mal versuchen, mit ihr zu reden.“

    „Das ist so bescheuert“, murrte Joe und zupfte sich den Welpen von der Nase. „Ich weiß gar nicht, warum ich diesen Scheiß überhaupt mitmache.“ Er schob seine Hand unter den Bauch der zwölf Wochen alten Französischen Bulldogge und stand auf. 

    „Du machst es für Mum“, mahnte Elias mit hochgezogener Augenbraue.

 

    Elias und Joe hatten erst vor wenigen Tagen – unter etwas ungünstigen Umständen – von ihrer Blutsverwandtschaft erfahren. Während Elias diese Tatsache ehrlich erfreut als gegeben hinnahm, warf es Joe ziemlich aus der Bahn, vor dreißig Jahren die kleine Schwester seines besten Freundes nicht nur entjungfert, sondern auch ein Kind mit ihr gezeugt zu haben. Dabei lieferte doch eigentlich schon die Ähnlichkeit – sowohl optisch als auch charakterlich – einen deutlichen Hinweis auf das Vater-Sohn-Verhältnis.

 

    Die Bulldogge in der Handfläche sanft wiegend, tigerte Joe durch sein Tattoostudio. Seine Kiefer mahlten. Er hatte überhaupt keine andere Wahl, als sich auf den von Elias und Evan ersonnenen Plan einzulassen. Indem sein ältester und bester Freund Gregor vorgeblich die Pizzabestellung bei ihnen aufgab, signalisierte er grünes Licht für Joe. Als Lieferant würde er mit Gregors Hilfe und von Greta hoffentlich unbemerkt, in deren Wohnung schleichen und sich zunächst in Elias‘ Zimmer verstecken können. Zum richtigen Zeitpunkt würde er Lotti vorschicken. Der tapsige Welpe sollte als Weichmacher fungieren, bevor Joe schließlich zum klärenden und versöhnlichen Gespräch auf der Bildfläche erschien. 

 

    So war der Plan. 

 

    Und dafür hatten sich Elias und Evan auch ziemlich ins Zeug gelegt. Während Evan – ein ausgesprochener Diplomat – den vorübergehend ziemlich wütenden Gregor besänftigen und von ihrem Vorhaben überzeugen konnte, fuhr Elias schlappe sechshundert Kilometer hinauf in den Norden, um Lotti bei einer seriösen Züchterin abzuholen. Die Anschaffung eines Hundes war bereits länger geplant, die Umsetzung erfolgte zweckdienlich nun einfach früher. Er war zur rechten Zeit am rechten Ort.

 

    „Kannst du dich nicht hinsetzen?“ Elias fläzte breitbeinig auf dem großen Ledersofa. „Wenn ich dir zuschaue, bekomme ich Drehschwindel.“

    Joe schüttelte den Kopf und steuerte den Schrank mit dem Whisky an.

    Evan war sofort alarmiert. „Was hast du vor?“

    „Wonach sieht es denn aus? Ich möchte etwas trinken.“

    Evan pfiff durch die Finger wie ein Kommandant. Typisch Lehrer. „Hier ist Wasser.“

    „Ich habe Durst“, knurrte Joe daher. „Ich bin nicht dreckig.“

    „Und was denkst du, wird Greta sagen, wenn du wieder mit einer Fahne vor ihr stehst?“, rief Evan ihm in Erinnerung.

    „Es trifft sich gut, dass du schon betrunken bist“, ahmte Elias eine Frauenstimme nach. „Ich wollte gerade über Gefühle sprechen.“

    Joe blies die Wangen auf und ließ die Luft dann hörbar entweichen. Dazu rollte er mit den Augen, um zu untermauern, wie genervt er inzwischen war.

    Die kleine Bulldogge spitzte die Ohren und sah zu ihm auf. 

    „Lotti? Denkst du, was ich denke?“

    Sie furzte ihm spontan auf die Hand.

    „Ich sehe schon“, lachte Elias. „Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“

 

    Lütte, die [ˈlʏtə] Substantiv, feminin

    (bezeichnet im niederdeutschen Sprachraum ein kleines Kind)

 

    In einer WG irgendwo im nördlichen Elbe-Weser-Dreieck...

 

    „Ich wäre gern ein Löwe“, teilte Thore mit todernster Miene mit und rammte mir einen Keks in den Mund. „Bumsen, fressen, geile Frisur.“

    Merrit tippte sich an die Schläfe. „Du hast sie echt nicht mehr alle.“ Dann wendete sie sich an mich. „Ich kann es immer noch nicht fassen.“

    „Waff genau?“ Ich kam mit Kauen und Schlucken gar nicht so schnell hinterher wie Thore den Spekulatius nachschob.

    Deshalb übernahm wohl auch er das Hinterfragen: „Dass Claus, ganz nebenbei bemerkt, der erste und einzige Mann, mit dem sie jemals sexuellen Kontakt hatte, Charlie nach dreißig Jahren Beziehung mal eben so mir nichts, dir nichts aus seinem Leben gestrichen hat? Oder dass sie seit gestern offiziell eine geschiedene Frau ist? Dass Charlie von Tante Margarethe neben ihrem nicht unbeträchtlichen Vermögen auch diese riesige Villa geerbt und daraufhin beschlossen hat, ihren Job im Hort zu kündigen, um zukünftig in Süddeutschland zu leben und als Tagesmutter zu arbeiten? Sechshundert Kilometer von ihren allerallerallerallerbesten Freunden entfernt, die sie nach der Trennung so herzlich und selbstlos bei sich aufgenommen haben?“

    Ich verdrehte die Augen und erstickte bei dem Versuch, genervt zu stöhnen, beinahe an etwa achtundneunzig Keksen in meinem Mund.

    „Ich meinte eigentlich“, murmelte Merrit, „dass du gestern tatsächlich mit diesem heißen Typen in der Kiste warst.“

    „Ich?“

    „Nein. Charlie.“

    „Das... äh...“, gestand ich krächzend. „Das kann ich selbst auch... immer noch nicht fassen.“

    „Welcher heiße Typ?“ Thore trat mir ungeduldig gegen das Schienbein, als ich nicht sofort antwortete. „Welcher heiße Tü-hüüüp?“

    „Das glaubst du nicht“, japste Merrit und ihre Wangen glühten förmlich vor Mitteilungsdrang. „Der war höchstens Anfang zwanzig und sah aus wie...“

    Ich legte meine Hand auf Merrits Mund und unterbrach ihren Redeschwall. „Ich habe gestern noch bei Tante Ida reingeschaut, nachdem Claus und ich diesen Rechtsmittelverzicht gegen den Scheidungsausspruch erklärt haben, um mich von ihr zu verabschieden. Am Nachmittag kamen die Käufer für die Welpen. Nur einer rief an und sagte, dass er sich verspäten würde. Also saßen wir so lange gemeinsam in der Wirtsstube und haben Tee getrunken.“

    „Ja. Genau. Tee.“ Merrit machte ein prustendes Geräusch.

    „Oh.“ Thore nickte wissend. „Idas norddeutsche Spezialität mit hohen Umdrehungen?“

    „Schon“, gab ich zähneknirschend zu.

    „Und?“ 

 

    Bevor Thore mir ein zweites Mal das Schienbein verschrammen konnte, zog ich die Beine auf den Stuhl und schlang meine Arme darum. Das Kinn stützte ich auf den Knien ab. „Der Käufer kam gegen halb sieben“, fuhr ich betont gleichgültig fort. „Ich hatte seinen Welpen auf dem Schoß und wir kamen ins Gespräch. Schließlich wurde es spät, sodass er beschloss, erst am Morgen nach Hause zu fahren. Also hat er sich ein Zimmer bei Tante Ida genommen und wir haben noch ein bisschen gequatscht.“

    „Aha. Und auf seinem Zimmer habt ihr dann weiter gequatscht.“ 

    „Sozusagen.“

    Meine beiden besten Freunde warfen sich vielsagende Blicke zu.

    „War’s denn gut?“, wollte Thore wissen.

    Merrit interessierte viel mehr, wann und ob ich ihn wiedersehen würde. „Wie heißt der Typ? Woher kommt er? Hast du seine Nummer?“

    Ich schüttelte drei Mal den Kopf.

    Thore lehnte sich nach vorn. „Wie? Du weißt nicht mal seinen Namen?“

    „Er hat den Welpen für jemanden abgeholt.“

    „Aber er wird Tante Ida doch seinen Namen genannt haben? Frag sie. Außerdem kann man über den Käufer herausfinden, wo er wohnt.“ Meine beste Freundin wurde ganz hektisch.

    Ich tippte mir an die Stirn. „Bleib mal auf dem Teppich, Merrit.“

    „Aber der Typ ist so heiß...“

    „Das ist eine Herdplatte auch“, schnitt ich ihr harsch das Wort ab. „Und jetzt ist Schluss. Ich werde ihn sowieso nie wieder sehen. Außerdem ist mir das alles verdammt peinlich.“

    Mitfühlendes Aufseufzen von Merrit.

    „Wieso denn peinlich?“ Thore hielt mir schon wieder Spekulatius unter die Nase und konnte diesen Ansatz von Schamgefühl überhaupt nicht nachvollziehen.

    „Weil Charlie normalerweise nicht der Typ ist, der sich volllaufen lässt und dann mit irgendeinem wildfremden Kerl ins Bett steigt. Das ist eher dein Ding, Thore.“

    „Ey“, hob er sofort abwehrend beide Handflächen. „Ich steige ja wohl nicht mit wildfremden Kerlen ins Bett.“

    „Mit wildfremden Weibern eben“, korrigierte sich Merrit maulig.

    „Und was hältst du von solchen Frauen?“ Ein Denkanstoß, der mich selbst am allermeisten beschämte. 

    Thore sah plötzlich aus, als hätte er mit fiesen Blähungen zu kämpfen. Er streichelte mir über die Wange und nickte verständnisvoll. „Wir wissen doch, dass du nicht so eine Frau bist.“ Räuspernd fügte er hinzu: „Normalerweise schläfst du nach dem vierten Grog ein und vögelst in der Regel auch nicht mit Burschen, die noch grün hinter den Ohren sind.“

    „Wie bitte?“, krümelte ich die Hälfte meines Spekulatius’ aus dem Mund.

    „Merrit sagte, er sei erst zwanzig?“

    „So ein Quatsch“, tippte ich mir wieder mit dem Finger gegen die Schläfe. „Er sagte, er sähe viel jünger aus als er ist.“

    „Und wie alt ist er nun?“

    Ich schob mir noch einen Keks zwischen die Zähne. „Dreißig. Und mir ist jetzt schlecht.“ Ich zog das Smartphone aus der Tasche und öffnete zögernd die Bildergalerie. Das letzte Foto war von gestern Abend – ein Selfie von meinem ziemlich heißen One-Night-Stand. Und mir. Mit einer einzigen Berührung des Zeigefingers löschte ich diese Nacht.

 

    Rückblick, der [ˈrʏkblɪk] Substantiv, maskulin

    (gedankliches Betrachten, Zurückverfolgen von Vergangenem)

 

    Am Abend zuvor in Tante Idas Pension...

 

    „Rum mut, Zucker kann, Water bruuk nich“, rezitierte Tante Ida einen uralten plattdeutschen Schnack, der so viel hieß wie Rum muss, Zucker kann, Wasser braucht nicht. So ganz genau nahm sie die Anleitung allerdings nicht. Für ihren Grog füllte Tante Ida zwei Teelöffel Zucker in ein Glas und löste ihn mit heißem Tee auf. Dazu gab sie großzügig Rum. „Auf dein Wohl, min Deern.“

    „Um Kopp, an Kopp, in Kopp.“ Es war schon der vierte Grog heute Abend und allmählich stieg mir der Rum echt in den Kopf. Nicht, dass das nicht nach dem zweiten schon der Fall gewesen wäre.

    Tante Ida – sie ist nicht wirklich meine Tante, sondern war die beste Freundin meiner verstorbenen Mutter, die mich nach ihrem Unfalltod bei sich aufgenommen hat – ignorierte mein Schnaufen und kraulte den schneeweißen Welpen in meinem Arm hinter den Ohren. „Ich mochte den Claus ja schon richtig gern“, erklärte sie mit Trauermiene.

    „Du kannst ihn immer noch mögen, Tante Ida. Claus ist schließlich nicht tot.“

    „Aber ihr seid nun geschieden. Und das kommt auf dasselbe raus.“

    „Aha.“

    „Aber er hat sowieso nicht zu dir gepasst, min Deern.“ Ida machte eine raumfassende Geste. „Claus war in den vergangenen Jahren nur noch mit seinem Job beschäftigt. Dich hat er doch gar nicht mehr wahrgenommen. Wann hatte er dir denn das letzte Mal einen Blick gegönnt? Voller Sehnsucht und Leidenschaft? Was du brauchst, Charleen, ist ein richtiges Mannsbild, das...“

    „Ich brauche ganz sicher keinen Kerl, Tante Ida. Weder richtig noch falsch. Ich konzentriere mich jetzt auf meine neue Aufgabe.“

    Tante Ida seufzte nachsichtig und tätschelte meine Hand. „Dieser Neuanfang wird dir sicher guttun, min Deern. Das hast du richtig gemacht.“ 

 

    Das hoffte ich. Es war ja schließlich nicht so, als hätte ich mir diesen Weg ausgesucht. Um ehrlich zu sein, war ich recht zufrieden mit meinem Job im Kinderhort, dem Häuschen am Bremerhavener Stadtrand – und eigentlich auch mit meinem Ehemann. Der machte gerade in einer renommierten Modelagentur als Booker Karriere. Aber so richtig. In seinem Job sorgte er dafür, dass die Termine von Models mit Fotografen, Produktionsteams, Kunden und allen beteiligten Medien geplant wurden und reibungslos abliefen. Er erstellte, bearbeitete und verwaltete die Sedcards von hoch dotieren Models, vermittelte sie an potenzielle Kunden und organisierte Go & Sees. Claus agierte als erster Ansprechpartner für die bildschönen Frauen und Männer, was ihm unter anderem einiges an Sozial-kompetenz abverlangte – und mir kosmische Gelassenheit. 

    Beides stellte keine Herausforderung dar. Seit mehr als einem Jahrzehnt schon lebten wir in stillem Einvernehmen miteinander nebeneinanderher. Bis zu jenem Nachmittag im Herbst vergangenen Jahres, als Claus meine Koffer vor die Tür stellte und erklärte: Tut mir leid, min Seuten. Aber du passt einfach nicht mehr in mein Leben. Da wünschte ich, mein Leben wäre mit Hintergrundmusik unterlegt. So wüsste ich wenigstens gleich, in welchem Schlamassel ich gerade stecke. Zu den größten Schnellmerkern vor dem Herrn gehörte ich nämlich leider nie.

 

    Es ergab sich nun, dass wenige Tage nach meinem unfreiwilligen Auszug Tante Margarethe verstarb und mich als Nichte mütterlicherseits mangels breiterer Verwandtschaft und keiner übermäßigen Leidenschaft für Tiere, als Alleinerbin einsetzte. Vorbehaltlich einer Bedingung: Ich müsse im Norden alles hinter mir lassen und die bereits seit mehreren Jahren leerstehende Villa im südhessischen Darmstadt beziehen. Erst, und nur dann, würde ich tatsächlich erben. Die Villa und monatlichen Unterhalt. Lebenslang.

 

    Nachdem Claus mich so völlig unerwartet vor die Tür und man mir tags darauf im Hort zudem eine waschechte Kackbratze vor die Nase gesetzt hatte, nahm ich in einem Moment grenzenloser Enttäuschung, Verzweiflung und Ratlosigkeit das verlockende Erbe als meine letzte große Chance wahr und schließlich dankend an. Ich bin fünfundvierzig und habe nicht mehr ewig Zeit.

 

    „Da wäre dann Ihr kleines Mädchen.“ 

    Ich war völlig in Gedanken – oder vielleicht schon vom Grog benebelt – und bemerkte gar nicht, dass Tante Ida irgendwann aufgestanden war und einen jungen Mann an unseren Tisch geführt hatte.

    Der sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue grinsend an. Es war ein nettes Grinsen. Ein sexy Grinsen. „Ich habe zwar etwas anderes erwartet“, zwinkerte der Bursche. „Aber das gefällt mir auch gut.“

    „Hä?“

    Tante Ida schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Entschuldigen Sie. Die Lütte ist manchmal etwas schwer von Begriff.“

    „Bin ich gar nicht.“

    „Bist du doch.“ Sie zog den Stuhl neben mir energisch zurück und bedeutete dem jungen Mann, sich zu setzen. Sofort.

    Er parierte. Sofort. Und immer noch grinsend. 

 

    Ich starrte die schlanke Gestalt mit dem eckigen Kiefer und der aristokratischen Nase wortlos an. Trotz der feinen, beinahe zarten Gesichtszüge wirkte er unbestreitbar maskulin. Das schwarze halblange Haar fiel ihm in weichen Wellen auf die breiten Schultern. Unter gerade verlaufenden Brauen stachen winterblaue Augen hervor. Ein Kerl zum Zweimalhingucken. 

 

    „Weißt du eigentlich“, hörte ich mich zu meiner eigenen Überraschung plötzlich sagen, „dass du aussiehst wie...“

    „Ja, das weiß ich.“ Er lächelte milde und seine Lippen formten ein Herz. „Aber du bist auch recht nett anzuschauen.“

    „Recht nett“, wiederholte ich. Da hatte ich schon originellere Komplimente bekommen. Nicht übermäßig viele. Aber ab und an verirrte sich auch mal eins zu mir. „Meine Oma sagte früher: Deern, auch wenn du wie ein Leberwurstbrot aussiehst, es gibt da draußen immer jemanden, der dein Gürkchen sein will.“

    Die eisigen Augen flammten auf und er warf lachend den Kopf in den Nacken. „Gürkchen?“

    Tante Ida schob unauffällig zwei Grog über den Tisch und nickte aufmunternd.

    Ich tippte mir an die Stirn.

    „Kein Gürkchen?“ Der junge Mann hatte meine Geste offensichtlich missverstanden.

    „Damit warst nicht du gemeint“, erklärte ich rasch.

    „Mit Gürkchen? Oder mit...“ Er formte mit seinem schlanken Zeigefinger kleine Kreise neben der Schläfe. 

    „Beides.“

    Seine ausgeprägten Kieferknochen mahlten. „Das finde ich jetzt aber schade. Obwohl du nun wirklich nicht wie ein Leberwurstbrot aussiehst“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

    Ich lehnte mich zur Seite und sah ihm fest in die eisigen Augen. „Meen Jung? Baggerst du gerade eine Frau an, die deine Mutter sein könnte?“

    Er zog den linken Mundwinkel zu einem verschlagenen Grinsen nach oben und beugte sich ebenfalls zur Seite. Unsere Nasen waren nun nur noch eine Handbreit voneinander entfernt. „Oh, ich sehe viel jünger aus als ich bin.“

    Ich seufzte bedauernd. „Schön. Ich nämlich auch.“

 

    Der Welpe regte sich unter geräuschvollem Strecken und Gähnen. Das wollte ich zum Anlass nehmen, mich schleunigst aus dieser merkwürdig prickelnden Atmosphäre zu ziehen. 

    Doch da hatte ich die Rechnung ohne Tante Ida gemacht. 

    „Ist die Kleine endlich wach? Da gehe ich mal mit ihr nach draußen.“ Sie nahm den Hund aus meinem Arm und entfernte sich sofort wieder. „Übrigens“, rief sie auf dem Weg zur Tür, „euer Grog wird kalt, ihr Lütten.“

    „Den solltest du nicht trinken, wenn du noch Auto fahren möchtest“, warnte ich vorsorglich.

    Der vielleicht nicht mehr ganz so junge Mann legte den Kopf schräg und hob das Glas. „Nur heute nicht mehr? Oder grundsätzlich nicht? Macht der blind?“

    Ich lachte kurz auf. „Du bist ‘ne Gurke.“

    „Schön, zu hören.“

    Schlagartig wurde mir die Mehrdeutigkeit meiner Worte bewusst, woraufhin meine Ohren zu glühen begannen.

    „Vom Gürkchen zur Gurke“, setzte der Flirtkandidat nach. In seinen Augen blitzte der Schalk. „Das hat definitiv Potential.“

    Ich boxte ihm spielerisch gegen den Oberarm. „Nun hör schon auf.“

    Tat er aber nicht. 

 

    „Ihr Lütten? Sperrt ihr später ab?“ Tante Ida legte den Schlüssel auf den Tisch und deutete auf die große Wanduhr. Fünf vor zwölf. „Gute Nacht, ihr beiden. Und du, min Deern, zeigst dem Jungkeerl bitte nachher sein Zimmer, ja?“

    Ich nickte eifrig und ließ mich von dem Jungkeerl vom Stuhl ziehen. Der legte gerade eine sensationelle Performance zu Olly Murs’ Wrapped up hin. 

    All these crazy thoughts in my mind now, there's just something about you...

    Ich war beeindruckt, zunächst nur hin- und dann mitgerissen, und gab mir alle Mühe, dem äußerst talentierten Burschen zu zeigen, dass auch ich keinen Stock im Arsch hatte. Meine besten Discozeiten lagen jedoch schon eine ganze Weile zurück.

    You got me wrapped up around your finger, I'd do anything for your love now...

 

    Nach dreieinhalb Minuten war ich zwar noch nicht außer Atem, aber der Rum machte sich mit Nachdruck bemerkbar. „Puh.“

    „Ho-hoppla.“ Mein Tanzpartner fing mich auf, als ich zur Seite wegzukippen drohte. „Geht’s wieder?“

    „Selbstverständlich“, antwortete ich brüskiert und nahm Haltung an. „Und du darfst mich jetzt gerne loslassen.“

    „Gut.“ Grinsend zog er mich näher an seine Brust.

    „Hallo?“

    „Ich darf“, erinnerte er an meine Worte. „Von müssen hast du nichts gesagt.“ Noch bevor ich korrigieren konnte, legte er einen Finger auf meine Lippen und neigte den Kopf. „Pschsch.“ Seine Nase stupste sachte gegen meine. 

    „Moment.“ Ich löste mich aus seinem Griff, trat ein paar Schritte zurück und schnappte nach Luft. „Was soll das hier bitte werden?“

    Sein Gesichtsausdruck war die Entsprechung eines naseweisen Schulterzuckens.

    Ich schüttelte den Kopf und räumte unsere Gläser vom Tisch. Dann schaltete ich das Radio und die Deckenbeleuchtung aus. Mit dem Zeigefinger winkte ich das Tanztalent herbei. „Ich zeige dir jetzt dein Zimmer und dann gehe ich nach Hause. Es ist schon spät.“

    Er nickte schmunzelnd und folgte mir in den ersten Stock. 

    An der Tür stand er hinter mir – so dicht, dass ich seinen warmen Atem im Nacken spürte. In meinem Bauch bahnte sich ein wohliges Prickeln an.

    Als das Schloss knackte, schob er die linke Hand geschmeidig an meiner Hüfte vorbei und drückte die Tür auf. „Bitte schön.“

    Ich trat rasch ein. Das Prickeln schwoll allmählich zu einem aufgeregten Kribbeln an. „Hier findest du den Lichtschalter, das Badezimmer und...“

    „Licht kann ausbleiben“, unterbrach er mich und war so nahe, dass meine Brust gegen seine stieß. Er legte eine Hand hinter mein Ohr und suchte meinen Blick.

    Schiet di wat, schimpfte ich in Gedanken. Wann hatte mich ein Mann zuletzt so angesehen? So berührt? So unmissverständlich begehrt? 

 

    Was dann geschah, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Synapsenfasching. 

 

    Nach zwölf Jahren Enthaltsamkeit hatte ich beinahe vergessen, wie viel Spaß Sex machen konnte, ja, was guter Sex überhaupt war. Dank des Rums hatte ich ebenfalls vergessen, dass ich zwar im Kopf, aber schon lange nicht mehr im Körper einer Zwanzigjährigen steckte. Was meinem jungen Liebhaber aber sowieso piepegal zu sein schien.

    Nahezu unersättlich und unermüdlich küsste und liebkoste er mich, jagte mich von einem Höhepunkt zum nächsten und schlief erst ein, als sich die ersten Herbstmorgensonnenstrahlen auf die Fensterbank legten.

    Ich schälte mich vorsichtig aus seinem Arm, schlüpfte eilig in meine Kleidung und stahl mich unbemerkt aus seinem Zimmer.

    Auf der Treppe begegnete ich Tante Ida. Sie musterte mich von oben bis unten.

    „Ich kann das erklären“, krächzte ich und fragte mich im selben Moment: So? Wie denn?

    Tante Ida winkte schmunzelnd ab. „Vertäl mee lever nix.“

    Erzähle mir lieber nichts. War wohl auch besser so. Ich verabschiedete mich von ihr mit einer innigen Umarmung und eilte zurück in die WG meiner besten Freunde Merrit und Thore, in der ich vor dreizehn Monaten untergekommen war.

 

Charlie und der Wolf {Grimms Mädchen}

Manchmal wünsche ich mir, mein Leben wäre mit Hintergrundmusik unterlegt. Dann wüsste ich wenigstens gleich, in welchem Schlamassel ich gerade stecke. (Charleen ‚Charlie‘ Liebkind)

 


Als Claus ihr nach dreißig Jahren Beziehung mit den Worten „Tut mir leid, min Seuten. Aber du passt einfach nicht mehr in mein Leben“ die Koffer vor die Bremerhavener Tür stellt, ergreift Charlie die Chance auf einen Neuanfang und zieht als selbständige Tagesmutter in die Villa ihrer verstorbenen Tante im südhessischen Darmstadt.

 

Noch bevor sie den ersten Schritt in ihr neues Leben macht, stolpert sie in die Arme von Elias – witzig, charmant, aufmerksam und fünfzehn Jahre jünger als Charlie. Doch – so what? Sie wird ihn ohnehin nach dieser Nacht nie wieder sehen. Denkt sie...

 

 

Die sportliche Charlie trifft in der Fortsetzung des Romans SCHEESCHNITTCHEN (2015) auf bereits bekannte und liebgewonnene Charaktere, wie die Geschwister Gregor und Greta sowie das Vater-Sohn-Gespann Joe und Elias und die frischgebackenen Eltern Alex und Nina mit Josephine. Und viele mehr.

 

Und weitab ihrer Heimat begegnet Charlie endlich dem Einen...

 

 

Wolf, der [vɔlf] Substantiv, maskulin

(auch als Krafttier bekannt, verfügt über einen starken Familiensinn, sodass er sein Territorium und seine Familie ohne Kompromisse schützt, sich aber nicht als Raufbold präsentiert und unnötigen Kämpfen aus dem Weg geht. Kommt es zum Streit mit Artgenossen, reicht meist ein Blick oder eine Geste, um Differenzen beizulegen.)

 

Das Leben ist nicht immer, wie es scheint.

 

Die Autorin beschränkt sich auch in dieser Geschichte nicht mehr nur auf die Erzählform aus Sicht der Protagonistin, sondern entführt ihre Leserinnen und Leser immer wieder in kleinen Etappen zu den Geschehnissen außerhalb ihres Wahrnehmungsbereichs. 

 

Mittendrin in vielen Leben.

Freitag, 2. Juni 2023

Pummelfee [2014]

KAPITEL eins

    Et kütt wie et kütt, sagt der Kölner. Er hat vermutlich Recht. Denn anders würde sich die groteske Abfolge persönlicher Schicksalsschläge und Niederlagen der vergangenen Woche weder erklären noch ertragen lassen.

 

    Mein Name ist Fee. Fee Jupiter. Ich gebe Ihnen genau dreißig Sekunden, um verhalten zu grinsen, laut schallend zu lachen oder mitleidig zu seufzen. Letzteres könnte ich forcieren, indem ich weitere Details zu meiner Person preisgebe, wie beispielsweise die wolfsweißen Korkenzieherlocken, das kleine zweite Kinn und eine Konfektionsgröße, die irgendwo jenseits der Sechsundvierzig angesiedelt ist. Die dazu passende üppige Oberweite habe ich leider nicht. Hatte ich noch nie. Den unbändigen Lockenkopf sowie eine leicht adipöse Veranlagung hingegen schon, wobei mein Hintern überraschenderweise keinen Anlass zur Klage und es sogar den Ansatz einer Taille gibt. Noch.

 

    Für meinen Namen – wie Sie sich sicher denken können – kann ich auch nichts. Hier liegt die Schuld gänzlich bei meiner bekloppten Mutter. Der weibliche Vorname Fee ist eine Variante von Fe, welche wiederum eine Kurzform von Namen wie Felizitas, Feodora oder Felia ist. Es hätte also auch schlimmer kommen können, nicht wahr? 

 

    „Du bist einzigartig, kleine Fee.“ Die Stimme meines Vaters klingt nach zehn Jahren noch immer klar in meinen Ohren. Obgleich ich es besser weiß (jeder stolzer Vater hält sein Kind schließlich für etwas ganz Besonderes – und falls es nicht so ist, läuft da definitiv was schief), möchte ich ihm gerne glauben, wenn ich in den Spiegel schaue. Da gibt es ein winziges Merkmal, das mich beinahe unverwechselbar macht. 

    Ich kam mit einer Irisheterochromie zur Welt. So bezeichnet man die Verschiedenheit beider Regenbogenhäute durch eine Störung der Pigmentierung. Betroffene haben folglich zwei verschiedene Augenfarben, erklärt uns in diesem Fall Wikipedia und informiert weiter: Die Form der Heterochromie, die keinerlei Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes und der Sehschärfe zur Folge hat, tritt in etwa vier Fällen unter einer Million Personen auf. Einer Million! Außerdem kommt Heterochromie beim Menschen relativ selten vor. 

    Meine rechte Iris ist taubenblau, die linke olivgrün. Es ist sehr amüsant, wie verwirrt ein Gegenüber zuweilen reagiert, wenn er mir in die Augen schaut.

 

    Dennoch verdanke ich Fee in Kombination mit meinem Erscheinungsbild den Spitznamen Pummelfee. Und das seit frühester Kindheit. Ein Wunder, dass ich keinen bleibenden psychischen Schaden davongetragen habe. Zumindest nicht offensichtlich. Kinder können grausam sein ist also nicht nur so daher gesagt. Außerdem sind sie sensibel. Es wird Tote geben war ein Tippfehler, der dafür sorgte, dass niemand zu meinem zwölften Geburtstag kam. An dieser Stelle weise ich auf meine Vorliebe zur Ironie hin und danke demnach meiner durchgeknallten Mutter, die nicht nur zu dusselig für eine einfache Einladungskarte war, sondern mich sowohl mit diesem Namen, als auch einem Übermaß an Aufmerksamkeit in Form von Kalorien- und Fettbomben bedacht hat. Ich wäre inzwischen sicher geplatzt, hätte sie nicht frühzeitig ihrem Leben und demzufolge auch dieser Mast ein Ende gesetzt. 

 

    Das mag sich nun tragisch anhören, viel verstörender ist jedoch das Geständnis in Form eines Briefes, den ich beinahe auf den Tag genau dreißig Jahre nach ihrem Tod ausgerechnet in einem Kochbuch finde.

 

    Kommen Sie doch einfach mal auf einen Sprung mit mir in die vergangene Woche:

 

    „Sieht man mal von der gefüllten Salatgurke ab…“

    „Gefüllte Salatgurke?“, unterbricht Mikkel unser Gespräch, das ich vermutlich sowieso nur mit mir selbst führe, ohne von der Fachzeitschrift aufzuschauen. „Hört sich doch nun gar nicht so verrückt an?“

    Ich seufze. „Schätzelein? Die Füllung besteht aus Nougatcreme, Erbsen und Sesam. Noch Fragen?“

    Mikkel hebt den Kopf. „Ähm... nein.“

 

    Ich habe bereits erwähnt, dass meine Mutter sehr speziell war. In Charakter, Wahrnehmung, Lebenseinstellung. Und Geschmack eben auch.

 

    „Aber hier ist etwas, das könnte durchaus... huch?“ Beim Durchblättern der weit über hundert handbeschriebenen Seiten rutscht ein Papier aus dem großen, alten Rezeptbuch, das dort nicht hineingehört. „Was ist denn das?“

    „Hm?“

    Ich lege das Buch zur Seite und streiche vorsichtig mit dem Zeigefinger über die Tinte des Blatts. „Der ist von meiner Mutter.“

    „Hmhm.“ Ich bezweifle, dass Mikkel mir überhaupt zuhört.

    „Ein Brief.“

    „Hmhmm.“

    Ich taste im Regal nach meiner Lesebrille. „Der ist“, kneife ich die Augen zusammen, „der ist von ihrem Todestag.“

    „Hmhmmm“, brummt Mikkel abwesend.

 

    Seufzend stehe ich auf und gehe in den kleinen Wintergarten. An Kölns Himmel hängen dicke Schneewolken mit der Verheißung auf weiße Weihnachten. Leere Versprechen, wie so viel in meinem Leben, hämmert es in meinem Kopf und verstummt augenblicklich, als Mikkel mir folgt.

    „Darling?“ Sanft streicht er mir über die Wange. „Was ist los?“

    „Dieser Brief ist von Eve, meiner Mutter.“ Mit zittrigen Fingern reiche ich ihm das Stück Papier und lache humorlos auf. „Sie hat mal wieder vergessen, ihn mir zu geben. Sie hat ständig irgendetwas vergessen. Das Geld für die Klassenfahrt zu überweisen, mich vom Turnen abzuholen, einen Weihnachtsbaum zu kaufen, meinen Geburtstag…“

    Mikkel legt seinen Arm um meine Schultern. Mit zusammengezogenen Augenbrauen liest er vor: „Liebste Tochter, kleine Fee…“

 

    Liebste Tochter, kleine Fee,

    sicher wunderst du dich, dass ich dir schreibe, schließlich bin ich ja schon tot.

 

    „Oh. Mein. Gott.“ Stöhnend lasse ich mich in den Korbsessel fallen. Der Brief ist dreißig Jahre alt. Ich war zu diesem Zeitpunkt fast fünfzehn. Trotzdem sprach, respektive schrieb meine Mutter mir wie einem Kleinkind. 

    Mikkel räuspert sich und fragt stumm, ob er weiterlesen soll. 

    Ich nicke.

 

    Du warst mein größtes Geschenk. Das Geschenk deines Vaters, der uns vor so vielen Jahren verlassen hat.

 

    Ich weiß ja, dass meine Mutter einen an der Klatsche hatte. Aber so schlimm? Unwillkürlich schüttele ich den Kopf und lausche weiter Mikkels Stimme.

 

    Vielleicht sollte ich dir das erklären.

 

    „Könnte hilfreich sein“, knurre ich. Doch Mikkels Gesichtsausdruck verfinstert sich und ich sinke tiefer in den Sessel.

 

    Vielleicht sollte ich es aber auch lassen.

 

    Ich stöhne und habe im Grunde jetzt schon genug von ihrem gestörten Monolog aus der Vergangenheit. Dennoch reiße ich mich zusammen.

 

    Es würde ohnehin nur wie eine billige Ausrede klingen. Du bist jetzt fast fünfzehn und hast bereits deinen eigenen Kopf. Einen sehr hübschen noch dazu. Das muss ich dir sagen. Denn du ähnelst von Tag zu Tag mehr deinem Vater. Seiner weichen, sanften Seite. 

 

    Fee, mein Kind, der Name deines leiblichen Vaters ist Ever Faithful. Er war Leadsänger einer Rockband und hat mich verlassen, bevor ich ihm sagen konnte, dass du unterwegs bist. Er hat mich verlassen, weil eine andere Frau von ihm schwanger war. Auch er ist schon tot und ich bin nun bei ihm. Aber du hast noch irgendwo einen Halbbruder oder eine Halbschwester, der oder die auch Halbwaise ist. Obwohl du, genau genommen, inzwischen ja Vollwaise bist. 

 

    Wie dem auch sei: Claus wird sich um dich kümmern, so wie er es all die Jahre getan hat, obwohl er wusste, dass du nicht seine leibliche Tochter bist.

    Ich liebe dich, mein Kind, und werde dich immer lieben. Auch wenn ich jetzt tot bin. 

    Frage nicht nach dem Grund. Mir war einfach danach.

    Wir sehen uns irgendwann im Himmel wieder, Mama

 

    Mein Kopf ist wie leergefegt.

    „Mir war einfach danach?“ Mikkel überfliegt die Zeile mehrmals und schüttelt fassungslos den Kopf. „Deine Mutter hat sich nicht wirklich aus einer Laune heraus“, er betont die letzten Worte, „das Leben genommen? Das kann ich nicht glauben.“

    „Doch“, widerspreche ich. „Kannst du. Das passt zu ihr. Eve hat mal aus einer Laune heraus Heiligabend gefeiert. Mit Baum und Geschenken und Festbeleuchtung. Im April. Brauchst du noch mehr Beispiele?“

    „Danke, nein.“

    „Et jitt Saache, do jläuvs et nit“, sage ich und meine damit, dass es Dinge gibt, die man nicht glauben kann. Oder möchte. So wie ich gerade. Mein Vater ein Rocksänger, der zwei Frauen gleichzeitig geschwängert hat? Und Claus wusste es die ganze Zeit? 

 

    Bitter enttäuscht von dem Mann, den ich fast fünfundvierzig Jahre für meinen Vater hielt, und völlig überfordert mit der Information über meine wahre Herkunft, sinke ich in mich zusammen.

    „Was wirst du jetzt tun?“, fragt Mikkel nach einer langen Weile. 

    Den Kopf in den Händen vergraben, schiele ich mit meinem grünen Auge durch Zeige- und Ringfinger. „Was soll ich schon tun? Alle, die etwas damit zu tun haben, sind tot. Soll ich auf ihr Grab pinkeln?“

    „Nun werde nicht gleich wieder so vulgär.“

    Ich rolle hinter vorgehaltenen Händen mit den Augen.

    „Du brauchst auch nicht mit den Augen zu rollen“, tadelt Mikkel.

    „Tu ich doch gar nicht.“

    „Tust du wohl! Also? Was ist mit dem Rest deiner Familie?“, lässt er nicht locker. „Wirst du es wenigstens deinem Sohn sagen?“

    Sofort straffen sich meine Schultern und die rechte Augenbraue schnellt nach oben. Ein Reflex meines Körpers, mit dem mein Geist im Grunde nichts zu tun hat. „Es ist auch dein Sohn, Mikkel. Und ich weiß nicht, was er damit zu tun hat“, erhebe ich die Stimme. „Alexander hat seinen Opa... hat Claus fünf Mal gesehen. Das ist bereits fünf Mal mehr als er jemandem aus deiner Familie begegnet ist.“

    „Fee, das ist jetzt nicht Thema“, grollt Mikkel. „Darüber können wir gerne ein anderes Mal sprechen.“

 

    Manche Gespräche sind so zielführend wie zwei Tage Kreisverkehr. Wie jene, in denen es um Mikkel und Alexander geht. Um Lærke und um mich. Gespräche, die ihren Anfang bereits vor fünfundzwanzig Jahren genommen haben und bei denen wir noch immer auf keinen gemeinsamen Nenner gekommen sind.

 

    Entschuldigen Sie bitte. Ein paar Fußnoten wären an dieser Stelle sicher angebracht, damit Sie mir folgen können. Also mal aufgepasst:

 

    Nach meiner Ausbildung zur Fotografin fand ich Ende der achtziger Jahre prompt eine gut bezahlte Anstellung in einem Fotostudio, das sich in Kölns Villensiedlung Marienburg schnell etabliert hatte, und zog um. Inhaber des Studios war der enorm ehrgeizige und zudem verdammt gutaussehende Däne Mikkel Hansen. Seine Frau Lærke erwartete bereits ihr zweites Kind und fiel demnach erneut als Mitarbeiterin aus. So kam meine Bewerbung genau zur rechten Zeit, wenn auch nicht von ungefähr. Achtung! Es folgt ein Schachtelsatz: Mikkel erkannte mein naturgegebenes Talent und finanzierte mir Ende der Neunziger sogar eine dreijährige Ausbildung zum Photoartist an der Photoacademy in Berlin, während derer mir innerhalb der Unterrichtsfächer das theoretische und praktische Wissen sowie neben dem handwerklichen Fotografieren in verschiedenen Bereichen auch wirtschaftliches Denken und kreatives Gestalten am Computer vermittelt wurde. Fertig! Mikkel, zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens bereits Ende dreißig, setzte gezielt seinen Charme ein und hatte mich, damals gerade neunzehn geworden, spielend um den Finger gewickelt. So wurde ich die Mätresse meines Arbeitgebers und nur wenige Wochen später von selbigem schwanger. Noch zwei Tage vor der Entbindung und bereits drei Monate danach stand ich im Studio. Unseren Sohn Alexander stets an der Seite. 

    Mikkel fand inzwischen einen Alibivater, um unser Verhältnis nicht auffliegen zu lassen. Beenden wollte er es keinesfalls. Seine Ehe allerdings auch nicht. Der Chauffeur der Familie, Per Ander, galt offiziell als Alexanders Erzeuger, wurde als solcher eingetragen und mager abgefunden. Viel hatte er sowieso nicht davon, da er den gesamten Betrag in einen Porsche 928 investierte, mit dem er nur wenige Tage später verunglückte.

 

    Lange Rede, kurzer Sinn. Ich führe seit fünfundzwanzig Jahren eine Beziehung mit meinem Chef, von der niemand etwas weiß. Außer uns und unserem gemeinsamen Sohn, der gerade zweihundertdreißig Kilometer entfernt als Barchef arbeitet. 

 

    Eine ganze Weile schweigen Mikkel und ich. Dann räuspert er sich, was ich mit einem verkniffenen Blick kommentiere. 

    „Darling“, haucht er und tastet nach meiner Hand. „Wann gibt es Essen?“

 

    Zwanzig Minuten später stelle ich seinen Teller scheppernd auf dem Wohnzimmertisch ab. Mir selbst ist der Appetit vergangen. Auch nicht das Schlechteste, wenn man ohnehin schon zu viel auf den Rippen hat.

    „Darling“, räuspert sich Mikkel erneut und ich bin versucht, ihm ein Hustenbonbon in den Rachen zu schießen. Mit einer Zwille. Aus fünf Zentimetern Entfernung. „Darling, was ist das?“

    „Das?“ Völlig unbeteiligt werfe ich einen kurzen Blick auf den Teller. „Das ist Brät vom Schwein mit Stäbchen von der Kartoffel an Tomaten-Curry-Jus.“

    „Bitte, was?“ Mikkel rümpft die Nase und sieht mich scharf an. „Das ist nicht dein Ernst, Fee.“

    Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Nein. Das ist deine Currywurst mit Pommes. Mikkel.“

    Widerwillig nimmt er Messer und Gabel zur Hand. „Und du? Isst du nichts?“

    „Nein.“

    „Und warum nicht?“

    Was für eine blöde Frage. Selbst ein Emotionslegastheniker würde wissen, dass mir die Offenbarung meiner Mutter gerade schwer im Magen liegt. 

    Ich werde wütend. Das ist so ein Prozess, den kann ich einfach nicht steuern. Bis ich bemerke, dass ich wütend bin, platzt mir bereits der Kragen. Außenstehende stellen den aufkeimenden Zorn früher fest – an den roten Flecken auf meiner Stirn. 

    Und genau die fallen Mikkel just in diesem Moment auch auf. „Du bist sauer, Darling. Das sehe ich dir an.“

    „Ich? Sauer?“ Ich schüttele trotzig den Kopf „Überhaupt nicht. Ich habe so gute Laune, ich könnte glatt Pflastersteine werfen.“

    Er seufzt, schiebt den Teller von sich und steht auf. „Ich denke, Darling, ich werde jetzt besser gehen.“

    „Denke ich auch“, stimme ich tonlos zu.

 

 

KAPITEL zwei

 

    Wenn et nit ränt, dann dröpp et, sagt der Kölner und hat wohl auch damit Recht. Selbst wenn ich persönlich diese Lebenseinstellung für übertrieben pessimistisch halte. Nicht immer läuft im Hintergrund bereits etwas schief, während wir uns an der Front noch in niemals enden wollender Glückseligkeit wähnen. Aber manchmal...

 

    Nachdem ich gestern Abend meinen Frust mit einer Flasche Rotwein hinuntergespült und heute Morgen mit zusammengekniffenen Augen einen Blick in den Spiegel geworfen habe, beschließe ich, den Samstag im Bett zu verbringen. Zumindest überwiegend und nicht ganz allein. 

    Auf dem Weg vom Bad zurück ins Schlafzimmer klemme ich mir mein MacBook unter den Arm und versorge mich gleich mit einer Regentonne Milchkaffee. Die Unordnung des gestrigen Tages ignoriere ich. Stört schließlich niemanden. Mikkel wird frühestens in zwei Tagen wieder hier auflaufen. Oder drei. Oder vier. Oder fünf. Und ich werde da sein. Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich in einer Warteschleife.

 

    Das Gehirn ist eines der bedeutendsten Organe. Es arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Vom Beginn deines Lebens bis zum Augenblick, in dem du dich verliebst. Wollte ich nur mal gesagt haben.

 

    Ich habe mir mein Leben so nicht gewünscht, niemals vorstellen können. Im Grunde verachte ich es sogar. To be classified top secret. Mein Privatleben unterliegt seit beinahe einem Vierteljahrhundert höchster Geheimhaltungsstufe. Als ob Mikkel Präsident der Vereinigten Staaten wäre, oder so. Dabei ist er nichts weiter als ein Migrant, der es dank seines Talents und nicht minder seines Charmes zu einem gewissen Status in der Gesellschaft, hohem Ansehen und einem stattlichen Vermögen gebracht hat. In der Öffentlichkeit tritt er als treusorgender Ehemann und liebender Vater von sage und schreibe sieben Kindern auf und präsentiert sich und seine Familie mit Stolz. 

    Alexander und ich hingegen werden gehütet wie sein verborgener Schatz. Hinter den Mauern eines Zuhauses, das wie ein Turm anmutet. Der Fassade eines hochgeschätzten Dienstverhältnisses. Erst mit sechzehn klärten wir Alexander darüber auf, dass Mikkel – zu dem er bis dahin und heute eine ungefähr so enge Bindung hat wie ich zur Wurstverkäuferin des Supermarkts von nebenan – sein leiblicher Vater ist. Zu diesem Geständnis ließ Mikkel sich nur hinreißen, weil wir ohnehin nach außen völlig abgeschottet sind. Ich habe weder eine beste Freundin noch war ich jemals im Elternbeirat. Für Köln und den Rest der Welt existiere ich nur am Rande. Mein ganzes Leben besteht aus meinem Sohn, meiner Arbeit und dem Warten auf Mikkel. 

 

    Liebe macht blind. Und vermutlich auch blöd. Ich habe nie hinterfragt, warum ich dieses Leben führe. Weder Mikkel noch mich selbst. Ich bin den Weg des geringsten Widerstandes und der höchstmöglichen Bequemlichkeit gegangen, habe akzeptiert, resigniert und mir selbst eingestanden, meiner Mutter nicht ganz unähnlich zu sein: Auch wenn ich es mir bis heute nicht vorstellen kann, habe ich noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, irgendwann offiziell die Frau an Mikkels Seite zu sein. Das nenne ich echt bekloppt.

 

    Als Alexander noch klein war, keimte manchmal das schlechte Gewissen in mir auf. Doch mein Sohn wischte es jedes Mal mit einem Lächeln und den Worten: „Mama, wir haben doch uns!“ beiseite. Selbst, als er mit sechzehn die Wahrheit erfuhr, nahm er es ganz gelassen hin. Er hatte mich und mehr brauchte er nicht.

 

    Inzwischen ist aus meinem kleinen Sonnenschein ein wirklich possierliches Exemplar der Spezies Mann geworden. Das sage ich als Mutter natürlich nicht ohne Stolz. Hochgewachsen und von der Statur eines Personaltrainers. Er teilt meine Leidenschaft für Tattoos, und mit seinem kahl geschorenen Kopf, dem Dreitagebart und dem spitzbübischen Lächeln ist er eine gelungene Mischung aus Vin Diesel und Dwayne 'The Rock' Johnson. Alex’ Augen sind wie die seines Vaters in warmem, tiefem Schokoladenbraun und haben zu meinem Leidwesen bereits einige Frauenherzen zum Schmelzen gebracht. Ich fürchte, inzwischen sind es bereits weit mehr geworden. 

    Seit einem halben Jahr arbeitet Alexander im zweihundertdreißig Kilometer entferntenSechsundsiebzig als Barchef und fühlt sich dort pudelwohl. Ursprünglich war das Sechsundsiebzig ein Kaufhaus – mit großer Glasfront, einem Lager, Aufenthaltsraum und Büro. Alexanders Chef schloss eine Marktlücke, indem er den alten Laden renoviert und so umgebaut hat, dass sich in vorderster Front ein Café mit Bar befindet, während der Lagerraum zum Frisörsalon und der Aufenthaltsraum zu einem Kosmetikstudio umgewandelt wurde. All das hatte in dieser ländlichen Gegend bis dato gefehlt und schlug ein wie eine Bombe. Der Laden läuft gut und Alexander verdient nicht schlecht, zumal er zusätzlich in einem Fitnessstudio arbeitet und ab und an als Türsteher aushilft. Er möchte sich orientieren und ausprobieren. Mit vierundzwanzig und einer geduldigen Mutter darf man das.

 

    Aber wo war ich stehen geblieben? Ah! In der Küche bei meiner extragroßen Portion Kaffee, mit der ich nun zurück ins Schlafzimmer schlendere. Im Schneidersitz mache ich es mir auf meinem Bett bequem und schalte das MacBook ein. 

 

    Denken ist wie Googeln. Nur krasser. Ich habe mich gestern Abend nicht nur in Selbstmitleid gesuhlt und am Rotwein gelabt, sondern neben dem kompletten Rezeptbuch auch den Brief meiner Mutter im Ofen verbrannt. Jetzt versuche ich verzweifelt, mich an den Namen meines Erzeugers zu erinnern.

 

    Die Rädchen in meinem Kopf ächzen, bevor sie sich in Bewegung setzen und nach einer gefühlten Ewigkeit einrasten. Gestern Abend noch habe ich die Beichte meiner Mutter als Ergebnis ihrer üblichen Hirngespinste und Fantasien abgetan. Heute jedoch tun sich leichte Zweifel auf. Warum auch immer. Bevor ich also endgültig einen Schlusspunkt hinter diese Angelegenheit setze, möchte ich die Herren Page und Brin befragen. Ich tippe Ever Faithful ins Googlesuchfeld und halte die Luft an. Doch alles was ich finde, ist der Titel eines Buches über Kuba im neunzehnten Jahrhundert sowie Amirelli Ever-Faithful, Bundesjugendsieger und Australien Terrier. Beide Ergebnisse führen definitiv nicht zu meinem Vater. Und sie führen weder dazu, mich von seiner einstigen Existenz zu überzeugen noch mit der ganzen Sache abzuschließen. 

 

    Bevor ich mir weiterhin meinen heute ohnehin angeschlagenen Kopf zerbrechen kann, geht ein Anruf über Skype ein.

    „Jode Morje, ming Hätzleevje“, krächze ich. 

    „Mum?“ Alexander sitzt mit freiem Oberkörper vor seinem Laptop. „Bist du krank?“

    Ich schüttele den Kopf. „Nur zu spät ins Bett gegangen.“

    „Seit wann bist du heiser?“

    „Keine Ahnung. Habe mich heute noch nicht mit mir unterhalten.“

    Alex seufzt. „Mum, ich müsste mal... hmpf!“ Er wird von einer relativ sparsam bekleideten Dame Anfang Vierzig unterbrochen, die durchs Bild hüpft und ihn stürmisch küsst.

    Ich seufze auch.

    Alex fuchtelt mit den Armen, als würde er einen Schwarm Fliegen verscheuchen wollen, dann schnaubt er: „Frühstück war nicht inklusive.“

    Im Hintergrund höre ich es zetern und scheppern. Dann knallt eine Tür.

    Ich räuspere mich. „Das war nicht fein, ming Jung.“

    „Mum, wir hatten Sex vereinbart. Von Übernachten war nicht die Rede.“ Er klingt tatsächlich entrüstet. „Ich bin ihr also schon entgegengekommen. Und jetzt erwartet sie auch noch Frühstück? Dreist, oder?“

    „Selbstverständlich, Sohn. So geht das natürlich nicht.“ Meine Stimme trieft vor Ironie. Oder dem, was davon noch übrig ist. „Wo kämen wir denn hin, wenn jede Frau nach dem Sex noch kuscheln oder gar zum Frühstück bleiben würde?“

    „Du sagst es“, zwinkert er schelmisch und wird dann ernst. „Mum, ich will mit dir reden. Ich habe eine nette kleine Eigentumswohnung gefunden. Hier.“

    „Ah!“ Mir war ja klar, dass Alex irgendwann einmal ausziehen würde. So eng und innig unsere Bindung auch ist. Mein Sohn ist vierundzwanzig. Was soll ich sagen? „Das ist toll. Ich freue mich für dich.“ 

 

    Oje, am liebsten würde ich mich an seine Beine klammern und heulen: Lass mich nicht allein, ming Jung! Aber weder tue ich das noch gebe ich es zu.

 

    „Du freust dich?“ Alex runzelt die Stirn und fixiert mich durch die Webcam. „Mum? Du würdest dich doch jetzt am liebsten an meine Beine klammern und heulen: Lass mich nicht allein, ming Jung! Gib es zu.“

    Ich schüttele den Kopf und schlucke den Klos in meinem Hals hinunter, der immer dicker wird. „Also bitte! Wo denkst du hin?“

„Mum?“

„Hm?“

„Isch han disch jän.“

    „Ich liebe dich auch, Alexander“, schluchze ich und breche dann in Tränen aus.